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Die Zustände von Amt und Familie berühren sich bei ihm mannigfaltig: Dennoch wurde Franz Kafka lange als abgehobene Ikone der Weltkultur behandelt. Eine sensationelle Biografie rückt ihn aber endlich in die Nähe des Alltags. Sie spricht vom hervorragenden Juristen, von Prager Wohnungsnöten und von ethnischen Konflikten. Von Richard Reichensperger Da die Eltern erst spät aus ihrem Galanteriewarengeschäft - Regenschirme, Muffs, feine Unterwäsche en gros - nachhause kamen, gab es in der Familie Kafka erst gegen 21.30 das Abendessen: Deftiges Fleisch zumeist, denn schließlich war man in Prag, und schließlich war der Vater ja als Sohn eines Fleischhauers in der Provinz geboren worden; Franz aber, der nach Büroschluss in der Arbeiterunfallversicherung um 14 Uhr am Nachmittag geschlafen hatte und die Ruhe der Nacht für sein Schreiben herbeisehnte, breitete vor sich aus: Teller und Schüsselchen mit Joghurt, Nüssen, Datteln, Feigen, Trauben, Rosinen, Bananen und sonstigem teurem Obst. Konsequent, dass der Vater wütend die Abendausgabe des Prager Tagblatts hochriss, um seinen jeden Bissen - nach Anleitung eines Naturgurus - exakt 30x kauenden Sohn nicht mehr sehen zu müssen. Dann spielte er täglich lautstark mit der Mutter ein Kartenspiel, das, wie zur Rache, "Franzefuß" hieß. Das Spiel erfordere weniger Verstand als Holzfällen, fand wiederum Franz. Und plötzlich versteht man, was die Eltern an ihrem Sohn nicht verstanden. Und was viele Eltern an ihren Kindern nicht verstehen: Dass es ganz andere Menschen sind, Fremde im eigenen Haus, die nur biologisch mit einem zusammenhängen. Nie wollten diese Eltern ihren engen Horizont des "Erwerbslebens" und ihre Lebensvorstellungen verlassen: Hierin wirkt eine Familie ja oft wie das Modell eines bornierten Staates. Aber damit noch nicht genug. Kafka fand für diese "Fremdheit mitten unter den nächsten Menschen" in der Nacht zum 17. November 1912 eine Metapher, die sein weiteres Leben und sein Werk bestimmen sollte: die Tiermetapher in der Erzählung Die Verwandlung : Im universalen Kleinbürgermilieu erfolgt die Verwandlung des Beamten Gregor Samsa in einen Käfer, bis er zuletzt als ein Es weggekehrt wird. So eng hängen bei Kafka Lebenswelt und Kunst zusammen - und doch ist die Ästhetik wiederum nicht einfach in Leben auflösbar, wie das in allzu oft geschieht. Der noch im Umfeld von Adornos "Frankfurter Schule" ausgebildete Reiner Stach stellt in der ersten großen Kafka-Biographie in deutscher Sprache noch ganz andere Fragen, die sein Buch auch für jeden, der sich nicht für Kafka interessiert, so bedeutend machen: Fragen zu Geschichte, Industrie, Identität, zur Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft und der in dieser exemplarischen Gestalt sichtbaren Verteidigung des Individuums gegen Entfremdung. Dabei gehen all diese Fragen selbst wieder auf einer Fülle von neuen Funden und einer "Synthese aus Synthesen" zurück, auf denen dieses Buch seine Erkundungen in fremde Lebenswelten antritt: "Die Zustände in Amt und Familie berühren sich bei Kafka mannigfaltig", notierte Walter Benjamin schon 1934 und meinte damit die Strukturen von Macht, Schmutz, Anonymität, Konflikt. Im Buch von Reiner Stach wird das auf verschiedenen Ebenen und durch die Befragung einer in langer Arbeit erworbenen breiten Materialbasis belegt: Das erste "Amt", das ihm die Familie selbst aufoktroyierte, war das eines Prokuristen in einer Asbestfabrik: Die Idee dazu hatte Kafkas Schwager Karl Hermann 1910 gehabt, und der Vater setzte Franz als Delegierten der Familie hinein und nahm ihm damit die Möglichkeit, nach seinen Amtsstunden in der "Arbeiterunfallversicherungsanstalt für die böhmischen Länder" um 14 Uhr sich Freiheit zu bewahren. Die Asbestfabrik entwickelte sich schlecht, Franz Kafka aber noch viel schlechter: Nach Andeutungen von Selbstmordwünschen im Oktober 1912 musste Max Brod erst bei Kafkas Mutter intervenieren, dann wurde Kafka von diesem qua Familie verliehenen Amt entbunden. Mit diesem Konflikt kann Reiner Stach auch erklären, warum in der Familie jenes eisige Schweigen herrschte, das Kafka im Tagebuch notiert: "Mit meiner Mutter spreche ich seit Jahren am Tag nicht mehr als 20 Worte, mit meinem Vater nur Grußworte." Abgesehen davon aber: Franz Kafka war ein herausragend guter Jurist, der durch seine Amtsgeschäfte - worauf schon Klaus Wagenbach hinwies - als einziger bürgerlicher Schrifsteller seiner Zeit mit der Arbeitswelt in Fabriken in Berührung kam. In seiner Dienststelle in der Versicherung musste Kafka, der schnell zum stellvertretenden Leiter einer Abteilung mit 70 Angestellten (!) aufstieg, schwierige Fälle behandeln: Die Betriebe in Nordböhmen mussten in "Gefahrenklassen" eingestuft werden und legten dagegen Rekurse ein. Kafka verfasste Aufsätze über die Gefährlichkeit von Holzschneidemaschinen, musste auf Dienstreisen aber auch mit aufgebrachten Unternehmern diskutieren, was er offensichtlich perfekt konnte. Allerdings rissen ihn diese Dienstreisen von seiner schriftstellerischen Arbeit weg. Es war zum Verzweifeln, das Leben ging verloren im Leben. Was kann man von einem Leben wissen? Das fragte Jean-Paul Sartre in seiner Flaubert-Biografie und meinte: Fakten allein genügen noch nicht; sie versprechen beschwichtigend oft vorschnelle Ruhe. Menschen aber leben in Unruhe, müssen gedeutet werden: Wie Briefe und Werke eines Dichters. Deshalb würde auch Reiner Stach sich nie mit den Fakten allein zufriedengeben (das machte etwa Hartmut Binder in seinem, allerdings trotzdem unentbehrlichen, Kafka-Handbuch 1975). Dieses Buch feiert auch nicht das herausgehobene Genie, sondern stellt Kafka hinein in die Gesellschaft und fragt, wie diese auf ihn reagierte. Zum Beispiel Felice Bauer: Bisher wurde immer vorausgesetzt, dass die Berliner Angestellte Felice Bauer, die Kafka am 13. August 1912 bei Max Brod kennenlernt und der er in den kommenden fünf Jahren hunderte Briefe voll mit Details aus seinem Leben und Denken schreiben wird, ein "Nichts" sei, auf welches das Genie seine Projektionen wirft. Selbst noch in einem der besten Essays zu Kafka, in Canettis Der andere Prozess, ist Felice auf dem Umschlag bloß als leere Fläche abgebildet. Reiner Stach aber stellt trocken fest: Um "Projektionen" zu behaupten, muss ich zunächst einmal genau klären, was da an Fläche überhaupt da ist. Also nach dem Leben dieser Felice fragen. Das hat noch niemand gemacht: Felice Bauer war keineswegs unbedeutend. Früh stieg sie in einer Berliner Firma für Diktiergeräte zur Prokuristin auf und verkörperte den Typus der modernen Angestellten, über den Siegfried Kracauer 1929 in der Frankfurter Zeitung schrieb: Rational wie rationiert, nüchtern, geradlinig. Keineswegs der Mütterchen-Typ, ebenso wenig natürlich der Typus "Hure": Keinem dieser beiden neurotischen Männerphantasien des Weiblichen war Felice zuzuordnen. Und keinen dieser beiden Typen hätte Franz Kafka gesucht. Nach und nach - und hier entwickelt sich diese Biographie über weite Strecken zum Kriminalroman - enthüllte sich allerdings, dass auch Felice in großen familiären Spannungen stand: Der Vater hatte, was damals noch als Skandal galt, die Familie einer Freundin wegen verlassen; eine Schwester brachte ein uneheliches Kind zur Welt, und der Bruder Ferry unterschlug Geld seines Schwiegervaters und musste nach Amerika, wie Kafkas Karl Rossmann, auswandern. Franz Kafkas Briefe an Felice sind großartige Literatur. Noch niemand, auch Canetti nicht, hat sie aber so akribisch intretiert wie Stach. Auf mehreren Ebenen vorgehen: Die Fakten, auch die der komplizierten Nicht-Begegnungen zwischen beiden; dann aber auch die literarischen Texte, die durch die Begegnung mit Felice ausgelöst wurden und Kafkas ästhetischen Durchbruch bedeuteten (Das Urteil, Der Verschollene, Die Verwandlung ). Hier wird deutlich, warum diese Biographie im Untertitel von den "Jahren der Entscheidung", nämlich 1910 bis 1915 spricht: In diesen Jahren explodierte Kafkas persönliches, ästhetisches, berufliches Leben: Zwei Tage nach seinem ersten Brief an Felice, in der Nacht vom 22. auf den 23. September 1910 schreibt Kafka die Erzählung Das Urteil. - Stach: "Eine Eruption, die in der Weltliteratur ihresgleichen sucht: Mit einem Schlag, scheinbar voraussetzungslos, war der Kafka-Kosmos präsent: die übermächtige und zugleich schmutzige Vaterinstanz, die ausgehöhlte Rationalität der Perspektivfigur, die Überlagerung des Alltags durch juridische Strukturen." Und auch seinen strengen Tagesplan entwarf Kafka im Anschluss an dieses Erlebnis: "8 bis 2 Uhr Bureau; 3 oder 1/2 4 Mittagessen, von da ab Schlaf bis 1/2 8 ... ab 1/2 11 Uhr Schreiben: bis 1, 2 oder 3 Uhr". Kurz darauf entwickelt Kafka, der den im Jahr davor in der Naturheilanstalt "Jungborn" begonnenen Amerika-Roman Der Verschollene wieder aufnimmt, auch die einsinnige Erzählerperspektive (alles wird, wie später in Der Process und Das Schloss, aus der engen Wahrnehmung des Protagonisten geschildert). Auch in diesen entscheidenden Zusammenhängen steht Felice. Wieviel Leben dieses Buch über ein Leben enthält! Von den Aufführungen des ostjüdischen Theaters in Prag 1910 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dabei stellt Stach gleich zu Beginn die Frage: Ein Leben? Nach heutigen Begriffen führte Franz Kafka ein sehr "schmales" Leben: 40 Jahre, in denen er seine Heimatstadt selten verließ, mit engem Freundeskreis, mit wenig Wirkung nach außen, in die Horizontale: "Das Leben des Einzelnen beeindruckt um so mehr, je größer der Radius, den er in der Welt aufspannt: Besitz, Leistungen, Karriere, Macht, Geschlechtspartner, Bewunderer." Dagegen Kafkas Bilanz: 40 vollendete Prosastücke, die in der Kritischen Ausgabe bloß 340 Seiten umfassen. Sonst: Abgebrochene Romane, Tagebücher und etwa 1500 Briefe. Lässt sich über ein so schmales "horizontales" Leben überhaupt eine Lebensgeschichte schreiben? Ja, aber dieses Leben wird sichtbar erst in den unendlichen Dimensionen, die es in der Vertikale entfaltet: "Der Reichtum von Kafkas Existenz hat sich wesentlich im Psychischen entfaltet, im Unsichtbaren, in einer vertikalen Dimension, die mit der sozialen Landschaft scheinbar gar nichts zu tun hat und diese dennoch überall, in jedem Punkt, durchdringt." Diese "vertikale Dimension" lässt sich nur sichtbar machen, wenn man sie auf den verschiedenen Ebenen zu deuten versteht: Reiner Stach verwendet dafür das Wort "Empathie", durch welche die Fülle von Fakten in den verschiedenen Feldern erst lebendig gebracht wird. Vorsichtig, umsichtig, nicht in simpler Identifikation. Wobei in diesem Leben alle Bereiche extrem zusammenhängen: Vaterkonflikt, Judentum, Ehe, Angestelltendasein, Krankheit, Sexualität. Kein Faktum bleibt ohne vorsichtige Deutung. Zum Beispiel Kafkas Neigung zur Naturheilkunde: Für Stach ist der Weg zur Askese eine verzweifelte Suche nach der Festigung eines brüchigen "Ich". Und das verbindet es wieder mit einem anderen Knoten in diesem Leben, der Suche nach einer "jüdischen" Identität. Sie verstärkt sich erst mit dem Auftreten der ostjüdischen Schauspielgruppe des Jizchak Löwy 1910 in Prag: Elend wirkt es auf die meisten Westjuden, die schnell ausbleiben. Die Truppe muss ins Café Savoy ausweichen, steigt sich auf der kleinen Bühne gegenseitig auf die Füße, beginnt vor dem Publikum zu streiten: Das finden alle peinlich oder lächerlich. Nur einer nicht: Franz Kafka. Während Martin Buber zur gleichen Zeit in Prag Vorträge über die "innere Erweckung des Judentums" hielt und das Westjudentum meinte, erlebte sie Kafka im Ostjudentum. Das aber verschärfte wieder den Konflikt in der Familie: Vom lauen Judentum des Vaters wird Kafka 1919 im "Brief an den Vater" schreiben; entsetzt aber war der Vater, als der Sohn sich ausgerechnet mit ostjüdischen Schauspielern, von denen sich alle abgrenzten, anfreundete: "Wer sich mit Hunden zu Bett legt, wacht mit Wanzen auf", so der Bannfluch des Vaters. Soviel Stärke aber entwickelt Franz Kafka in all seiner sozialen Schwäche und Ausgesetztheit; soviel Widerstand und Beharrungskraft. Marthe Robert hat in Einsam wie Franz Kafka 1979 die Probleme der Identitätssuche ins Zentrum gerückt und stellte ganz richtig den Zusammenhang mit gesellschaftlichen Problemen heraus: "Als deutschsprachiger Jude, österreichischer Staatsbürger und Einwohner einer tschechischen Stadt, in der die Tschechen ihn allein deshalb als Feind betrachten, weil er ihre Sprache nicht spricht - woran hätte Kafka sich hier wohl assimilieren können?" - Reiner Stach steht, unter anderem, auch in dieser Tradition. Ja: Dieses Leben war an nichts und niemanden assimilierbar. Aber die Anstrengungen, die Anläufe, das Nachdenken: Kafkas Texte und Briefe sind voll davon. Hier hat sie einer auf höchstem Niveau zu lesen, zu deuten und zu vermitteln geschafft. (DER STANDARD, Printausgabe, 19.10.2002)