Madame ist ein klein wenig sauer. Nein, Standesdünkel habe sie keine. Schließlich sei die Familie ihres Vaters selbst erst in den Dreißigerjahren von Russland nach Frankreich gekommen. Und wohlhabend sei man damals beileibe nicht gewesen. "Nur weil ich Geschmack habe, glaube ich noch lange nicht, besser als andere Menschen zu sein!"

Madame heißt mit richtigem Namen Katherine Khodorowsky. Bekannter ist sie in Frankreich allerdings als Madame Chocolat, als allwissende Expertin in Sachen Schokolade. In Sachen "richtiger", sprich purer Schokolade, versteht sich. Beim Wort Milchschokolade rümpft sie dezidiert die Nase: "Mozartkugeln finde ich scheußlich!" Madame kennt sich allerdings auch anderweitig blendend aus: Sie ist Expertin in Sachen Gänseleberpastete. "Meine zweite Leidenschaft!" Sie weiß mit Bestimmtheit, wie man sich bei Tisch benimmt. Und welche Kleidung man zu welchen Anlässen trägt.

Kurz: Madame könnte die Verkörperung des sprichwörtlichen französischen Lebensstils sein. "Geschmack", sagt sie während des gemeinsamen Abendessens und streift dabei über ihren farblich zum blassroten Kostüm passenden Schal, "Geschmack ist die Errungenschaft einer jahrhundertealten Kultur." Mit einem distinguierten Lächeln auf den Lippen und einem abgespreizten kleinen Finger greift sie zu ihrem Weinglas. Und fragt etwas säuerlich, ob es in Österreich üblich wäre, sich bereits während der einzelnen Menügänge eine Zigarette anzuzünden. "In Frankreich ist das unmöglich."

In Frankreich, so lernt man als Reisender in Sachen französischem Art de vivre, ist vieles unmöglich. Etwa dass es in einem Haushalt kein Fischbesteck gibt. Oder dass man, gibt man öfters Gesellschaften, zweimal dasselbe anzieht. "Ich notiere mir in einem Büchlein, was ich bei welcher Einladung jeweils anhatte", erzählt Madame: "Es wäre mir peinlich, die Gäste in Kleidung zu empfangen, die sie bereits kennen. Auch notiere ich mir, welche Speisenfolge ich den Gästen auftische. Damit es ja zu keinen Wiederholungen kommt."

Der leichtfüßige Klang des Wortes Art de vivre täuscht: Französische Lebenskunst kann anstrengend sein. Sehr sogar. Madames wie Katherine Khodorowsky gibt es in Frankreich allerorten. Sie scheinen notwendige Begleiterscheinungen einer Kultur zu sein, die wie wenige sonst auf richtigen Stil Wert legt. Auf die adäquate Stofftapete im Hotel, das antike Möbel im Flur, auf den glitzernden Manschettenknopf oder das Verhalten bei Tisch. Nicht umsonst gilt Paris als die Hauptstadt des Luxus. Nicht nur bei amerikanischen und japanischen Touristen.

Luxus - so Madame Khodorowsky - hat mit Stil, Qualität und Geschmack zu tun. Das ist richtig, verfehlt die Sache aber um Haaresbreite. Denn Luxus ist eine Steigerungsstufe von Stil, Qualität und Geschmack. Er ist eine Verfeinerung von Lebenssitten und Ressourcen, ohne dass man allerdings mit Bestimmtheit sagen könnte, wofür solcherlei Verfeinerungen gut sein sollten - außer vielleicht, die feinen Unterschiede der Stände zu betonen. Und das eigene Kleingeld loszuwerden.

In Paris wird man dafür unzählige Gelegenheiten finden. Denn hier tarnt sich Luxus als Notwendigkeit: "Den Luxus, den ich später nie entbehrte und dessen Mangel mich auch nie schmerzlich berührte", schreibt etwa der ungarische Schriftsteller Sándor Márai, der von 1923 bis 1929 in Paris lebte, "begehrte ich in Paris sozusagen wie ein mir abhanden gekommenes Körperteil; ein Luxusauto, eine Luxusbuchausgabe, eine Luxusfrau, ein Luxuskinderwagen im Bois de Boulogne entlockten mir laute Klageworte."

Ein kleiner Seufzer entfährt denn auch dem Munde von Madame, erzählt man ihr vom Hotel, in dem man untergebracht ist. Es ist zwar nicht das legendäre Ritz, aber immerhin. Villa Eugénie nennt sich das Etablissement, das auf den ersten Blick den Charme eines Edelpuffs besitzt. Doch was der Laie nur als Dekor voller suggestiver Erotik wahrnimmt, ist das ausgefeilte Konzept eines Hauses, in dem alle aufeinander abgestimmten Einzelheiten der "Anmut und Schönheit der Kaiserin Eugénie im reinen Stil nach Napoleon III." huldigen. Dass die Zimmer dabei extra klein geraten sind, sollte niemanden stören. Der Preis für eine Übernachtung ist dafür umso höher.

Aber vielleicht ist es gerade das, was wahren Luxus auszeichnet: Entgegen der allgemeinen Meinung ist ein Leben in Luxus von Entbehrungen gezeichnet. Der ständige Blick auf die Etikette, die Sorgen, dass man sich ja dem Rahmen entsprechend benimmt, die Mühen, auf den Luxus der anderen selbst immer noch ein Schäuflein draufzulegen. Insofern ist ein kleines Zimmer und ein mickriges Frühstück, wie es die Villa Eugénie bietet, wohl ein Einsteigerpaket für Luxushungrige. Den Luxus, bei 350 Euro pro Nacht auf Luxus verzichten zu müssen, muss man sich erst leisten können.

Anderntags hatte man seinen Geschmack an Luxus noch vor den Toren von Paris schulen können: anhand des Pavillon de la Maye in Versailles, einem zu einer spektakulären Kleinstherberge umgebauten Herrschaftshaus. Hier ist Luxus mit dem Charme des Unscheinbaren verbunden. Zumindest auf den ersten Blick. Das ist wohl das untrüglichste Zeichen für wahren Luxus. Von außen ist die Villa ein Wohnhaus, auch wenn man besser Wohntempel dazu sagt. Standesgemäß auch der Besitzer: der ehemalige Geschäftsführer des berühmten Pariser Maxim's, Monsieur Daniel-Etienne Hourdry. "Wir haben nur fünf Zimmer hier, dafür erhält der Gast aber eine Unterbringung mit Familienanbindung."

Familie, oder vielleicht sagt man besser Familiarität, dafür darf man hier in die Tasche greifen. Manch einer zahlt im Urlaub dafür, dass er endlich einmal von seiner Familie in Ruhe gelassen wird. Hier ist es gerade umgekehrt. Die Besitzer wohnen im Zimmer nebenan. Und am Abend sitzt man traut beisammen. "Wer nicht will, muss nicht", schränkt Monsieur Hourdry allerdings ein. "Man darf sich auch bloß an der Ruhe und Gediegenheit des Hauses erfreuen." Nur 20 Minuten sind es zum Schloss von Versailles, doch genauso herrschaftlich wie dort in vergangenen Zeiten geht es im Pavillon de la Maye auch heute noch zu: antike Möbel, lichtdurchflutete Räume, Dienstpersonal, das auf Zehenspitzen durchs Treppenhaus huscht.

Doch zurück zu Madame Khodorowsky: Mittlerweile ist man beim Essen bereits beim Nachtisch angekommen. Natürlich gibt es Schokoladedesserts in allen möglichen Variationen: "Zuerst bitte ich Sie, die Granatapfelschnitte mit weißer Schokolade zu probieren", unterweist Frau Khodorowsky ihre Gäste: "Dann erst die Törtchen aus dunkler Bitterschokolade." Schließlich regen Granatäpfel die Verdauung an, und man will sich doch - bitte sehr - den Luxus leisten, alles zu probieren. Auch wenn es vielleicht besser käme, auf manches vornehm zu verzichten.

Schokolade, das ist jenes Terrain, wo sich Madame wie keine Zweite auskennt. Viel weiß sie von den medizinischen Anfängen des Gebrauchs von Schokolade zu erzählen. Und von all den verschiedenen Sorten, die es weltweit gibt: "Die beste Schokolade ist allerdings die französische!" Jene, die man bei einem der sündhaft teuren Pariser Chocolatiers kaufen könne. Man hatte es geahnt.

Mit Geld hat Geschmack indes nicht allzu viel zu tun, erklärt Madame, wenngleich sie zugeben muss, dass mit einem Mindesteinkommen "guter" Geschmack nicht zu finanzieren ist. Wohl auch nicht mit einem mittleren Einkommen, möchte man hinzufügen. Es müsse ja nicht gleich das Besteck von Christofle sein, so Madame, um die kredenzten Schokoladehäppchen stilvoll genießen zu können. Auch wird man sich als Normalsterblicher kaum ein Geschirr aus der Porzellanmanufaktur von Sèvres leisten können.

In Sèvres, am Rande von Paris, am Ufer der Seine gelegen, stellt man seit Jahrhunderten handbemaltes Porzellangeschirr her. Anfangs für den Königshof, seit geraumer Zeit nun für den Elysée-Palast. Natürlich kann man auch als privater Käufer Teller und Tassen erwerben. Vielleicht findet sich ja eine Kleinigkeit, die weniger als tausend Euro kostet.

Mittlerweile hat auch Madame die Schokoladendesserts aufgegessen. Ob sie Geschirr von Sèvres besitze? Nein, auch sie könne sich schließlich nicht alles leisten. Dann legt sie ihre Serviette zusammen und spricht ein letztes Wort: "Die Hauptsache ist, man weiß, was sich gehört." Jetzt zündet auch sie sich eine Zigarette an. (Stephan Hilpold/DER STANDARD, Printausgabe, 15.11.2002)