Foto: Stadtkino
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Wien – Die Fahrt führt in die umliegenden Landschaften der Auvergne. Es ist Wandertag, im Bus vertreibt man sich mit fröhlichen Lieder die Zeit, später picknicken Schüler und Lehrer im Schatten eines Baums. Da geht plötzlich eines der Mädchen verloren – und eine Suchaktion beginnt. Der Kopf des Lehrers ist dabei der einzige, der aus dem Kornfeld herausragt.

Die Szene, aus dem letzten Drittel von Nicolas Philiberts Être et avoir (Sein und Haben) – vor kurzem mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis prämiert – hat eine fast allegorische Qualität. Denn Georges Lopez, der Lehrer einer Volksschule, die in dieser Gegend liegt, übt seinen Schülern gegenüber eine ähnlich beschützende Rolle aus wie ein Hirte.

Die Schule ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Sie besteht nur aus einer einzigen Klasse, die alle Kinder der Nachbarschaft, vom Kindergartenalter an, gemeinsam besuchen. Philibert hat nach ihr (beziehungsweise dem Lehrer) über fünf Monate lang gesucht, und man kommt nicht umhin, sie als Idealfall zu betrachten. Die Integration ist groß, die Autorität des Lehrers sanft, doch bestimmt: Man merkt gleich, dass er ist es, der den Zusammenhalt gewährt.

Être et avoir ist kein Film, der sich für die Schule als Apparat interessiert, sie stellt auch kein Gegenmodell dar, das nostalgisch besetzt werden kann. Philibert vollzieht vielmehr mit der Neugierde eines Anthropologen den Unterricht mit – die Interaktion zwischen Lehrer und Schüler, die einer ständigen Verhandlung gleicht; so wird eine Ordnung sichtbar, die stets gefährdet ist von Unaufmerksamkeit, Rivalität oder Vermittlungsproblemen.

Die Einstellungen bleiben ruhig, der Blick der Kamera jedoch flexibel; er kann eine Lektion wiedergeben oder sich dem einzelnen Schüler zuwenden, wo er mitunter ein gänzlich anderes Drama erhascht – die Entwendung eines Radiergummis. Mit der Zeit treten der ein oder andere Star hervor: Jojo, ein wenig der Bengel, der die Geduld des Lehrers gern auf die Probe stellt; Nathalie, still und unergründlich, oder die älteren Jungen, Julien und Olivier, über den wir in einer der beklemmendsten Szenen erfahren, dass sein Vater im Sterben liegt.

Überhaupt scheint es das äußere Umfeld zu sein, wie Philibert nur andeutet, in dem der Umgang weit rauer ist, zu dem sich der Ort der Schule jedenfalls stark absetzt: Julien, in der Klasse selbstsicherer Souverän, wird bei den Hausaufgaben von Familienmitgliedern umringt, wirklich zu helfen vermögen sie ihm nicht. Erst im vertraulichen Gespräch mit dem Lehrer brechen mitunter unbestimmte Ängste hervor, die bis dahin nicht ausgesprochen wurden.

"Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst", schrieb der Philosoph Ernst Bloch in den Spuren. Neben all der situativen Komik von Être et avoir geht es auch um diese Entwicklung – diese Vorbereitung für die Welt der Erwachsenen. Wir werden Zeugen einer Veränderung, des Erlernens sozialer Entscheidungsgabe. Etwas, das den Kühen, die auf ihrem Weg am Zaun vorbei milde stumpfsinnig in die Kamera blicken, erspart bleibt.

Am Ende des Films steht für manche Schüler der endgültige Abschied. Auch der Lehrer, selbst kurz vor der Pensionierung, ist den Tränen nahe. Was bleibt, ist die Melancholie nach singulären Augenblicken. (DER STANDARD, Printausgabe, 7./8.12.2002)