"Jenseits des Glaubens"

Foto: Claassen
Es gibt wohl keinen britischeren Autor als V. S. Naipaul, den in Trinidad geborenen Weltreisenden. Mit achtzehn Jahren verließ er seine Heimat, um in England zu studieren und ein großer Schriftsteller zu werden; was ihm fehlte war ein Thema, er hatte das Gefühl, aus einem traditions- und geschichtslosen Niemandsland zu stammen, das künstlerische Betätigung fast unmöglich machte. Anders als sein Landsmann Derek Walcott sah er in Trinidad nicht das Bunte und vielgestaltige Leben, sondern eine kulturelle Einöde, der man entkommen musste. Aber wie die Last dieser Vergangenheit überwinden, wie Teil einer Tradition werden, die nicht die eigene war? Naipauls großer Moment war es, als er (ähnlich wie unter anderen Umständen Samuel Beckett) erkannte, dass aus seiner Schwäche eine Stärke werden konnte, dass es möglich war, die eigenen Defizite zum Inhalt seines Schreibens zu machen, dass das gottverlassene Dasein in den entlegenen Teilen des Commonwealth, wo es wenig Vergangenheit, eine öde Gegenwart und keine Zukunft gab, selbst etwas war, das zum Inhalt großer Literatur werden konnte. Naipaul schrieb genau darüber seine bedeutendsten Romane, und er schrieb sie aus jener britischen Literaturtradition heraus, die er in langer, mühsamer Arbeit zu seiner eigenen gemacht hatte. Kein englischer Autor hätte es sich erlauben können, so englisch, kein Europäer, so europäisch zu sein. Weil er selbst es erfolgreich vermeiden konnte, eine Existenz als Opfer des Kolonialismus zu führen, spricht Naipaul heute ganzen Staatsgebilden das Recht zu solcher Opferrolle ab: Wohl sei man durch seine Herkunft geprägt, aber kein Mensch und kein Land dürfe die Verantwortung für sein Schicksal ganz seiner Herkunft zuschieben. Naipauls Weltbild ist bis ins Innerste geprägt von seiner Weigerung, eine literarische Randexistenz zu führen, seiner Entschlossenheit, sich als Schriftsteller selbst zu erfinden. Gerade weil Naipauls Bücher so viel mit seiner Biographie zu tun haben, hat er eine solche Besessenheit zur Distanz entwickelt: Die berüchtigte Kühle und herablassende "aloofness", die seine Reisebeschreibungen charakterisieren, stammen aus einer Tradition, die so britisch ist, dass kein Schriftsteller englischer Herkunft es wagen würde, sich unverblümt darauf zu berufen: Es ist der Ton von Samuel Johnson und der großen Reiseschriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, alles begreifend, universell interessiert aber von wenigem berührt, ein Ton vollkommener Selbstgewissheit und Souveränität, der das Unbekannte gelassen registriert, aber nie Gefahr läuft, davon überrascht oder überwältigt zu werden. Am deutlichsten zeigte sich das in Naipauls Reisebericht Among the Believers (dt. Eine islamische Reise) von 1981; einem Buch über seine Reise durch Iran, Pakistan, Malaysia und Indonesien. Naipaul ging es dabei weniger um den Islam selbst, als um das Problem der konvertierten Völker: Es faszinierte und erschreckte ihn, wie in diesen Ländern Jahrtausende alte Daseinsformen zugunsten völlig fremder Lebensweisen aus dem arabischen Raum aufgegeben wurden. Mit einer bis dahin ungekannten Deutlichkeit warnte Naipaul vor einem neuen religiösen Kolonialismus. Die Empörung war beträchtlich, und bis zum 11. September galt es als selbstverständlich, dass er sich damit die Chance auf den Nobelpreis verspielt hatte. 1998 schickte Naipaul seinem Islambuch einen zweiten Band nach, die Dokumentation einer neuen Reise, die er fünfzehn Jahre später durch dieselben Länder, wo immer möglich dieselben Menschen aufsuchend, unternommen hatte: In Jenseits des Glaubens, nun mit einiger Verzögerung auf Deutsch erschienen, verzeichnete er den Aufschwung der pakistanischen Wirtschaft, den Ansehensverlust der Kleriker im Iran und natürlich, den bedrohlichen Aufstieg des Fundamentalismus. Es handelt sich allerdings um ein auch literarisch nicht unproblematisches Buch: Getreu seinem Credo, dass nicht nur der Roman als Gattung tot sei, sondern ein Autor nichts mehr erfinden, ja die Wahrheit nicht einmal arrangieren dürfe, begnügt sich Naipaul hier stärker als in früheren Reiseberichten mit der Rolle des Protokollierenden. Dabei ist er natürlich nie der nach allen Seiten offene Beobachter, als der er sich so gekonnt darstellt: Zwar hat er auch dort, wo er Vorurteile hegt, meist recht, aber er spricht eben auch dort, wo er recht hat, aus Vorurteilen und fixierten Meinungen heraus; und oft hat man das Gefühl, dass Naipaul zwar jedes Wort seiner Gesprächspartner registriert und wiedergibt, dass aber nichts, was einer von ihnen sagt, seine Ansichten je ändern oder ins Wanken bringen könnte. So bleibt das ältere Buch wohl auch weiterhin seine bleibende Leistung, und das neuere ein etwas zu umfangreiches und vor allem für Spezialisten interessantes Postskriptum. Einen anderen Naipaul zeigt die Sammlung Briefe zwischen Vater und Sohn. Herausgegeben von Gillon Aitken und von Naipaul selbst weder überarbeitet, noch - nach eigener Aussage - auch nur wiedergelesen, enthält es die brieflichen Dialoge zwischen dem jungen Studenten und seiner Familie, vor allem dem Vater, einem Journalisten des Guardian auf Trinidad. Hier sprechen von Anfang an zwei professionelle Schreibende, die ihre Äußerungen zu setzen und zu stilisieren wissen, zugleich aber ist es ein vollkommen privates Gespräch. Der junge Vidia zeigt sich bereits mit seinem ganzen Selbstbewusstsein, aber doch noch unsicher und suchend; zur eigentlichen Hauptfigur wird aber Seepersad Naipaul, intelligent, fürsorglich und liebevoll, der in einem Moment einzigartiger Hellsicht dem Sohn sich selbst als Objekt für dessen Schreiben anbot und damit erst V. S. Naipaul, den Romancier von Weltrang, möglich machte. In Ein Haus für Mr. Biswas, Naipauls Roman über den Vater, über die Existenz eines Verzweifelten an einem trostlosen Ort ohne Aussicht auf Entkommen, konnten Jahre später all seine divergierenden Talente zur Deckung kommen: Mitleid, funkelnde Intelligenz, die Brillanz eines knappen, erbarmungslos ironischen Stils. Ohne die Anregung, ja Erlaubnis des Vaters wäre dieses Hauptwerk Naipauls wohl nie entstanden. Briefe zwischen Vater und Sohn ist ein Dokument dafür, dass nicht alle Künstler sich in Rebellion gegen den Vater definieren; dass es auch Umstände gibt, unter denen dieses Verhältnis von gegenseitigem Respekt und echter Freundschaft geprägt sein kann. Es war dieser Glücksfall, der die vielen Nachteile von Naipauls Herkunft mehr als kompensierte. []