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Foto: REUTERS/Larry Downing

"Europa kann nicht einfach ein Batzen Pudding ohne bestimmte Grenzen sein", meinte kürzlich EU-Kommissionspräsident Romano Prodi. In der alten Einheitssprache Europas, die auch auf dem Gebiet der heutigen Türkei Verwendung fand, lautet die Topfrage dieser Woche: "Ubi fines?" - Wo sind die Grenzen der EU?

Fines bedeutet aber auch "Ziele". Latein bietet sich daher besonders an, um den entscheidenden Konnex in der Debatte über die Zukunft der Union herzustellen: Müsste die EU nicht zuerst wissen, was sie am Ende sein will, bevor sie entscheidet, wer alles dazugehören soll? Eine EU als Superstaat wäre der souveränitätsbewussten Türkei nicht die erhoffte Heimat. Eine EU als reine Freihandelszone würde vielleicht sogar den Schweizern attraktiv erscheinen.

Über die Ziele der EU macht sich in diesen Monaten der Reformkonvent Gedanken. Die Grenzen ziehen die Staats- und Regierungschefs ab Donnerstag in Kopenhagen ein wenig weiter. Gegen die zehn Neulinge, die dort zu EU- Mitgliedern gekürt werden, hat niemand mehr etwas einzuwenden. Auch Rumänien und Bulgarien werden ein Hoffnungsdatum bekommen. Bliebe der Kandidat Türkei.

Romano Prodi selbst hat die Grenzen/Ziele-Debatte vergangene Woche indirekt durch seine EU-Verfassungsskizze bereichert. Ihr Codename - _Penelope - deutet an, was sie sein soll: den Europäern Heimstatt nach langer Irrfahrt, wie sein Weib dem Odysseus.

Geschichtsbewusste Politiker in Ankara - auch sie kennen die abendländischen Klassiker - mögen das als Steilvorlage nutzen: Odysseus' lange Reise durch das Mittelmeer begann in Troia, auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Konventspräsident Valéry Giscard d'Estaing kontert, dass unter den Römern die Landmasse, auf der der Großteil der Türkei heute liegt, nun einmal "Asia minor" hieß. Kleinasien, nicht Kleineuropa.

"Jeder europäische Staat", so sagt es lapidar der Vertrag über die Europäische Union, kann Mitglied der EU werden. Doch was macht einen Staat "europäisch"? Ein positives Kopenhagener Signal an die Türkei eröffnet zwangsläufig weitere "Fronten": Eine Gemengelage von Beitrittskriterien aus Geschichte, Geographie und Werten beeinflusst die Grenzen der künftigen EU.

Vom Ural bis Israel

Weißrussland und die Ukraine sind bald direkte EU-Nachbarn und beide europäisch. Außer Armut kaum Probleme mit Kiew. Doch das autoritäre System in Minsk ist nicht EU-konform, der Präsident würde lieber Russland beitreten. Russland selbst ist nur bis zum Ural Europa. Darf die Türkei aber als Ganzes beitreten, müssten für Russland die selben Regeln gelten. Geografie wird relativ.

Also Geschichte: Dann muss auch Israel als durch und durch europäischer Staat gelten. Hier liegt das nicht nur an den Alten Römern, sondern auch an den Verbrechen von Deutschen und Österreichern, die Israels Entstehen "befördert" haben. Diese Nähe der Vergangenheit unterscheidet Israel von "europäischen" Staaten wie USA, Neuseeland, Australien oder Chile.

Zählten eher die Werte, kämen alle Anrainer als EU- Mitglieder in Betracht, die Demokratie und Menschenrechte achten. Wenn sie dann, wie die Mittelmeerstaaten, auch noch historische Verbindungen via Rom zu bieten haben, müssten die Verhandlungen beginnen. Marokko hatte übrigens schon einmal den Clubantrag gestellt. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.12.2002)