Vor zehn Jahren lag ganz Polen im EU-Taumel: Die Perspektive, demnächst zur "uropäischen Familie" zu gehören, gemeinsam mit den Franzosen, Deutschen, Engländern und Spaniern an einem Tisch zu sitzen, begeisterte über 80 Prozent der Polen. Heute, nach dem zweijährigen Verhandlungsmarathon mit Brüssel, müssen die polnischen Politiker fürchten, dass das Referendum im Mai nächsten Jahres scheitern könnte. Die Enttäuschung über die Brüsseler Krämermentalität ist groß. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus hatte man sich die "Rückkehr nach Europa" etwas anders vorgestellt. Die EU stand für Freiheit, Demokratie und soziale Marktwirtschaft. Heute wissen es die Polen besser: Für sie ist die EU ein Verein von reichen Staaten, die die armen Cousins aus dem Osten zwar aufnehmen, ihnen aber möglichst wenig vom gemeinsamen Kuchen abgeben wollen. Der Gipfel der Ungerechtigkeit ist für die Polen, dass sie vom ersten Tage an den vollen Mitgliedsbeitrag in die EU-Kasse einzahlen sollen, die polnischen Bauern dann aber nur 25 Prozent der Direkthilfen erhalten sollen, die ihre EU-Kollegen im Westen bekommen. "Wir haben keine Wahl", sagt Polens Finanzminister Grzegorz Kolodko. "Wenn wir über den nächsten Haushaltsplan der EU mitbestimmen wollen, müssen wir jetzt beitreten." Obwohl die Zweifel immer größer werden, ob der Beitritt zu den ausgehandelten Bedingungen Sinn macht, denken die meisten Polen ähnlich: "Wenn die Alternative Brüssel oder Minsk heißt, gibt es keine Alternative. Wer will schon in Weißrussland leben?" überzeugen sich die Polen gegenseitig. EU-Vision Nur Tadeusz Mazowiecki, der 1989 erster nichtkommunistischer Ministerpräsident Polens wurde, hält noch an der Vision einer politischen EU fest: "Die Staatschefs, die letztlich über die Bedingungen des Beitritts entscheiden, können nicht einfach Buchhalter sein. Sie müssen das Format von Staatsmännern haben, denen klar ist, dass sie nicht nur über die Zukunft Europas, sondern auch über seine künftige Rolle in der Welt entscheiden." Kurz vor dem EU-Erweiterungsgipfel hat auch das polnische Abgeordnetenhaus noch einmal eine positive Erklärung zum EU-Beitritt verabschiedet. Darin betonen die Abgeordneten die künftige aktive Rolle der Polen in der EU. "Wir wollen eine Gemeinschaft von Nationen mitbegründen, die auf den Prinzipien der gegenseitigen Hilfe und Solidarität beruhen soll." Im Vordergrund steht aber auch hier die Angst, dass das Volksabstimmung im Mai 2003 scheitern könnte und Polen - aus eigenem Willen - vor den Türen der EU bleiben würde. Zwar sind noch immer rund die Hälfte aller Polen für den Beitritt zur EU, doch das Thema beginnt die Leute zu langweilen. Experten fürchten daher, dass zu wenig Wähler am Referendum teilnehmen könnten. Sollten aber weniger als 50 Prozent ihre Stimme abgeben, wäre das Referendum ungültig. (DER STANDARD, Print-Ausgabe vom 11.12.2002)