Inland
SP-Geheimpapier: Chronik eines angekündigten Scheiterns
Eine Studie der Sozialdemokraten zeigte schon im Sommer auf, wie die Wahl zu gewinnen gewesen wäre - Sie empfahl das Gegenteil des SP-Wahlkampfs
Wien - Die SPÖ hatte den
Schlüssel zum Erfolg bei der
Nationalratswahl schon in der
Hand, vergaß ihn dann aber
irgendwo auf dem Weg. Wie
sie es tat, ist bezeichnend.
Was sie aus der Hand gab,
auch: In einer 36 Seiten umfassenden und geheimen Studie "Netzwerk Rot:Weiß:Rot",
die dem STANDARD vorliegt,
steht konkret geschrieben, wie
es die SPÖ richtig machen hätte sollen: die Jugend ansprechen, Beamte, Freiberufler,
mittlere Angestellten umgarnen, die FPÖ-Wähler zum
Nichtwählen animieren, die
ÖVP angreifen, Karl-Heinz
Grasser vereinnahmen - also
das Gegenteil des SPÖ-Wahlkampfs. Erstellt hat die Studie
der Sozialwissenschafter Harald Katzmair im Auftrag des
SPÖ-Präsidiums.
Im Jänner dieses Jahres hatte man beschlossen, die Wählerin und den Wähler, die unbekannten Wesen, aufzuspüren, um sie im Fall der Fälle
auf die rote Seite ziehen zu
können. 145.000 Euro hatte
sich die SPÖ die Sache damals
kosten lassen. Wissenschafter
Katzmair interviewte 1033 Österreicher und untersuchte
deren "Kernnetzwerke": Mit
wem ist man im Beruf zusammen, wen trifft man in der
Freizeit? Welchen Einfluss
haben Alltagsgespräche auf
die politische Meinungsbildung, wie wichtig sind Opinionleader und Opinionbroker?
Mit wem muss die SPÖ Kontakt herstellen, um mit ihren
Botschaften anzukommen?
Die wichtigste Erkenntnis:
Entscheidend ist nicht, was
Einzelpersonen via Medien
über Politik erfahren - entscheidend ist, wie ihre Freunde, Bekannten und Arbeitskollegen darüber denken,
welchen "spin" das Thema im
eigenen sozialen Netzwerk
bekommt. Die Methode, die
Katzmair anwandte, ist neu in
Österreich, das Ergebnis war
erstaunlich präzise. Dennoch
hielt man sich lieber an die
Ratschläge der amerikanischen Berater, und die meinten in vielen Fällen das genaue
Gegenteil.
Wo die SPÖ die Wahlen
verlor, ergibt sich bei der Detaildurchsicht der Studie:
Wahlen, so die Analyse
Katzmairs, werden nur dann
gewonnen, wenn es gelingt,
die Wählergruppen der anderen Parteien zu demobilisieren, interessierte Wechselwähler aber zu mobilisieren.
Im konkreten Fall: Jene, die
von der FPÖ oder von der ÖVP
enttäuscht sind, aber keinesfalls bereit sind, SPÖ zu wählen, müssen motiviert werden,
nicht zur Wahl zu gehen -
durch Angriff vom ersten
Wahlkampftag an und gezielte
Desavouierung. , in dem man
"Salz in offene Wunden des
Gegners streut" (Katzmair).Interessierte
Wechselwähler werden gewonnen, indem man Themen
aufgreift, die neu erscheinen
und die Wähler persönlich betreffen.
Demobilisiert können vor
allem FPÖ-Wähler werden -
und die sind am stärksten in
städtisch-ländlichen Grenzgebieten, also in Gemeinden
mit 10.000 bis 20.000 Einwohnern beziehungsweise in
Städten zwischen 20.000 und
50.000 Einwohnern. Genau
listete der Sozialwissenschafter jene Städte auf, in denen
die Sozialdemokraten im Sinne der "Demobilisierung" intensiv wahlkämpfen müssten:
von Amstetten über Steyr bis
Bregenz reicht die Liste, von
Perchtoldsdorf über Ried im
Innkreis bis St. Veit an der
Glan.Genau
dort wanderten, wie sich nun
herausstellte, am 24. November scharenweise FPÖ-Wähler
zur ÖVP über. Die SPÖ konnte
den Massen-Überlauf enttäuschter Freiheitlicher nicht
stoppen. Als wichtigste Bundesländer im Kampf um den
Kanzlerposten benannte die
Studie schon im Sommer:
Steiermark, Oberösterreich,
Niederösterreich.
Das Wechselwählerpotenzial der SPÖ bezifferte Katzmair mit 23 Prozent. - ungefähr gleich verteilt ist dabei
der Anteil von Männern und
Frauen. Dabei
handelt es sich vor allem um
mittlere und leitende Angestellte, öffentlich Bedienstete,
Freiberufler, Studenten und
fertige Akademiker - Leute,
die selbst in ihren Netzwerken
sowohl mit SPÖ-, ÖVP- und
Grün-Wählern verkehren und
zwischen 30 und 44 Jahre alt sind. Diese Leute, so Katzmair
auf Seite
18 seiner Studie, seien "stark KandidatInnen-orientiert und rein Confrontainment-Voters". Ihnen imponierten also telegene Politiker,
die im TV beste Politunterhaltung bieten. Katzmair: "Sie zu
mobilisieren wird für die SPÖ
wahlentscheidend sein." Der
Wissenschafter sollte Recht
behalten: Die erfolgreiche
Mobilisierung der Mittelschichten brachte Wolfgang
Schüssel den Sieg.
"Es wird empfohlen, die
ÖVP und die Grünen als primäre Konkurrenten im Rahmen der sozialdemokratischen Mobilisierungsstrategie
zu betrachten, die FPÖ hingegen als zentrale Zielgruppe
der Demobilisierungskampagne. Die Wahrscheinlichkeit, dass deklarierte FPÖ-
SympathisantInnen zur SPÖ
zurückwechseln, ist zurzeit
ohnedies sehr gering", ist auf
Seite
21 zu lesen. Die Empfehlung war gut, wie die
Wählerströme beweisen. Allein, die SPÖ handelte anders:
keine wirtschaftspolitischen
Angebote an die ÖVP-Klientel,
brüskes Zurückweisen der
Grünen und mit der Nominierung der in FPÖ-Kreisen heftig
bekämpften Gertraud Knoll
ein starkes Motiv für blaue
Wähler, nicht SPÖ zu wählen.
"Fragt man nach jenen PolitikerInnen, über die innerhalb
der Kernnetzwerke des nicht
ausgeschöpften Potenzials positiv gesprochen wird, so wird
die eindeutige Konkurrenzsituation der SPÖ mit der ÖVP und den Grünen unterstrichen. Karl-Heinz Grasser,
Alexander Van der Bellen, Benita Ferrero-Waldner und
Ernst Strasser sind jene Politiker, die in diesem Ranking
führen. Es wird empfohlen
namentlich diese vier Politiker entweder positiv zu vereinnahmen oder nachhaltig
politisch zu desavouieren."
Auch das war ein guter Vorschlag, die Realität sah freilich
anders aus: Auf Grassers ÖVP-Umschwung war die SPÖ
nicht gefasst, die Präsentation
von Wolfgang Petritsch als
Gegen-Außenminister missglückte, und die Desavouierung von Strasser wurde den
Grünen überlassen.
Weiters warnt die Studie
davor, "Kernschichten-Botschaften" (weg mit der Ambulanzgebühr, Arbeitsplätze
für alle, ein gerechtes Gesundheitssystem) über die
Massenmedien zu verbreiten.
Hier sei es viel wirksamer, mit
den Opinionleadern der kleinen Leute, wie Trafikanten,
Tankwarten, Wirten, direkt zu
kommunizieren. Über die
Medien müssten die Botschaften für die wechselwählenden
Mittelschichten verbreitet
werden, so Katzmair. Auch dies ist Alfred Gusenbauer in den TV-Konfrontationen nicht gelungen. Nur die
Kernwählerschichten wurden
optimal erreicht.
All das können Sozialdemokraten in der "Netzwerkanalyse" nachlesen. Ein Blick
auf das Präsentationsdatum
wird ihren Katzenjammer
noch erhöhen. Katzmair legte
die Studie im Juli vor - Zeit
genug also für die SP-Granden, die unbequeme Analyse
tief zu vergraben. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14./15.12.2002)