Ministerpräsident Leszek Miller hatte Mühe, die Augen offen zu halten, als er den Polen die frohe Botschaft verkündete: "Polen wird in die EU aufgenommen!" Der elfstündige Verhandlungsmarathon in Kopenhagen war so anstrengend gewesen, dass Miller kaum noch Kraft zu einem Lächeln hatte.Die Abendnachrichten im polnischen Fernsehen wirkten, als sei Weihnachten ein bisschen vorverlegt worden. "In den Jahren 2004 bis 2006 werden wir aus Brüssel sechs Milliarden Zloty (1,5 Mrd. Euro) bekommen." Der Premier machte eine wirkungsvolle Pause und teilte seinen größten Erfolg mit: "Die polnischen Bauern werden schon in den ersten drei Jahren unserer Mitgliedschaft 60 Prozent der Direktzahlungen erhalten, nicht nur 25, wie von Brüssel zuerst angeboten." Die Kameras schwenkten in den dunkelblauen Sternenhimmel von Kopenhagen und zurück zu Miller: "Die Milchquote wurde auf 8,5 Millionen Tonnen jährlich erhöht. Die Abschlüsse der polnischen Krankenschwestern werden ab sofort EU-weit akzeptiert. Für den Grenzschutz gibt es 400 Millionen Zloty mehr." Auf der Kippe In Polen war die Erleichterung groß. Den ganzen Tag lang hatten die Busfahrer ihre Radios so laut laufen lassen, dass alle Passagiere die Beitrittsverhandlungen in Kopenhagen mitverfolgen konnten. Einmal - als es so aussah, als würde die polnische Delegation wütend abreisen und damit die EU-Erweiterung in den Sand setzen - drohte in ganz Polen der Verkehr zu stocken. Doch kurz danach kam die erlösende Nachricht: "Wir verhandeln weiter." Noch in der Nacht wurden dem nach Warschau zurückkehrenden Miller, den Ministern für Landwirtschaft, Finanzen und Äußeres sowie den beiden EU-Unterhändlern Jan Truszczynski und Danuta Huebner ein rauschender Empfang bereitet. Alle früheren Ministerpräsidenten Polens kamen ins Präsidentenpalais und gratulierten Miller, hatte er doch über alle ideologischen und politischen Gräben hinweg das gemeinsame Werk aller Regierungen Polens seit 1989 vollendet. Adam Michnik, Polens berühmtester ehemaliger Bürgerrechtler, ging auf Miller zu und umarmte den einstigen kommunistischen "Betonkopf" herzlich. Am nächsten Tag machte Michniks Zeitung, die Gazeta Wyborcza, mit dem knallroten Riesentitel "Unia Nasza" - "Unsere Union" - auf, geschrieben im weltberühmten Schriftzug der polnischen Freiheits- und Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc aus den 80er-Jahren. In einer großen Karikatur lehnt sich ein Pole mit dem klassisch viereckigen Käppi und der vorwitzig wippenden Feder in einem Sessel zurück, der aus den zwölf EU-Sternen besteht. Der sonst so kämpferische Pole lächelt entspannt und streckt die Hand gelassen zum Siegeszeichen aus. Soll heißen: "Nun sind wir endlich wieder zu Hause." Gegner im Aufwind Doch eine Hürde ist noch zu nehmen. Im Frühjahr nächsten Jahres - im Gespräch sind der 22. Mai und der 6. Juni - werden die Polen in einem nationalen Referendum über den EU-Beitritt abstimmen. Der Regierung wie auch den EU-Befürwortern ist klar, dass das noch einmal gefährlich werden könnte. Denn in den letzten Jahren haben die EU-Gegner viel Boden gewonnen. Bei den Kommunalwahlen vor zwei Monaten bekamen die rechtsradikalen Parteien "Samoobrona" (Selbstverteidigung) und "Liga der polnischen Familien" sowie die rechtspopulistische Liste "Recht und Gerechtigkeit" fast die Hälfte aller Stimmen. Während die katholisch-nationalistischen Parteien und Medien den Rücktritt der Regierung fordern, da das Verhandlungsergebnis in Kopenhagen einer "Kapitulation" gleichkomme, planen die Befürworter bereits eine groß angelegte Pro-EU-Kampagne, die den Polen ein neues und stolzes "Wir-Gefühl" geben soll: "Wir Europäer." (DERSTANDARD, Printausgabe, 16.12.2002)