Foto: Polyfilm
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"Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer" erzählt ein rohes Drama um Eifersucht und Mord mitten in der Arktis - und erlaubt Einblicke in eine wenig bekannte Kultur. Einer der ungewöhnlichsten Filme des Jahres, der zur Gänze von Inuit produziert wurde.


Wien - Es ist verlockend, über die Schönheit der schneebedeckten Landschaften, das endlose, ewige Weiß dieses Films, das nahtlos in den Horizont übergeht, einen Einstieg zu versuchen. Atanarjuat - Die Legende vom schnellen Läufer legt dies fast nahe, wenn ganz zu Beginn ein Inuit in der Totale der Natur völlig aufgehoben scheint.

Doch dann kommt es anders. Verwirrend sprunghaft werden Zeit- und Raumebenen montiert, in einem Iglu wird ein Kult begangen, eine Person liegt gefesselt am Boden. "Das Böse kam wie der Tod", verkündet die Voiceover, und es ist weniger das, was man sieht, das Beklemmung hervorruft, als eine Bedrohung, die erst einmal als Möglichkeit besteht.

Schon an diesem Punkt des fast dreistündigen Films ist also eines gewiss: Mit der idyllischen Beschreibung einer Lebensform, dem Schwelgen in einer autarke Kultur hält sich Atanarjuat nicht auf. Der Film basiert vielmehr auf einer tausend Jahre alten Legende der Inuit, die alle Elemente eines großen Kinodramas enthält: Liebe, Eifersucht und Verrat, Mord, Vergewaltigung und Vergeltung.

Für den Film wurde der Stoff von Drehbuchautor Paul Apak Angilirq erstmals in der Sprache der Inuit, Inuktitut, verfasst. Angilirq gehört wie alle Beteiligten von Atanarjuat - mit Ausnahme des kanadischen Kameramanns Norman Cohn, der als Videokünstler bekannt ist - diesem Volk an. Dennoch ist der Film nicht die Arbeit eines Amateurs: Regisseur Zacharias Kunuk dreht seit fast zwei Jahrzehnten Dokumentationen - kleinere Porträts, Filme, in denen seine Kultur auf fiktionale Weise rekonstituiert wird -, und er hat seine eigene unabhängige Produktionsfirma, Igloolik Isuma Productions.

Die archaische Legende trifft in Atanarjuat auf eine progressive Form des Filmemachens - auf die hohe Mobilität, aber auch ästhetische Grobheit von Video. Diese Qualitäten korrespondieren harmonisch mit dem unromantischen Blick auf das Leben der Eskimos: In ihren Fellen und mit ihren metallenen Sonnenbrillen bewahren sie ihre Eigenständigkeit, eine nie ganz zu bewältigende Fremdheit. Nach Mahlzeiten wird gerülpst, in Ritualen zerrt man an Mundwinkeln des Gegners oder hält das Gesicht für den Faustschlag hin.

Verfolgung im Schnee

Die Erzählung ist gleichermaßen von Affekten beherrscht: Zwischen Atanarjuat (Natar Ungalaaq, der einzige professionelle Schauspieler) und seinem Cousin kommt es zu einem Streit um eine Frau, der zuerst noch geschlichtet werden kann. Aber der Zorn legt sich nie, sodass sich die Spirale der Gewalt weiterdrehen wird: Atanarjuats Bruder wird im Schlaf ermordet, er selbst muss sich in einer fulminanten Sequenz nackt (und somit bloßfüßig) übers Eis laufend vor seinen Verfolgern retten.

Das Drama ist jedoch kein psychologisches; ein Fluch liegt über dieser Gemeinschaft, der gleich einem Dämon von manchen aus ihr Besitz ergreift. Kunuk gibt dann auch in einigen Momenten den szenischen Naturalismus auf, um etwa Widergänger aus der Vergangenheit zu zeigen, die auf die schamanistischen Traditionen der Inuit verweisen. Trommelschläge rhythmisieren das Geschehen, verleihen ihm aber auch eine unheimliche Aura, wenn sie vor nahendem Unheil warnen.

Die Zeit, die sich Atanarjuat nimmt, ist zwar kaum spürbar, sie erlaubt jedoch ganz nebenbei die Erfahrung von spezifischen Fertigkeiten, ob bei der Jagd, beim Fischen oder bei der Reinigung von Fellen. Solche Szenen sind in den Film sorgfältig eingewoben, Teil eines Ganzen, wodurch sie nie vordergründig wirken. Der Film vermag so das Universelle mit dem Besonderen in Einklang zu bringen.

Atanarjuat ist in seiner Verbindung von einer allgemein gültigen Fabel mit einem Blick auf Traditionen einer so gut wie unbekannten Kultur gewiss eines der ungewöhnlichsten Beispiele eines Weltkinos, das - nicht zuletzt bedingt durch die vergleichsweise ökonomische Form von Video - an den Rändern ständig wächst. 1922 widmete sich der Dokumentarfilmemacher Robert J. Flaherty mit dem berühmten Nanook of the North bereits einmal den Eskimos - beinahe 80 Jahre später ist dieser Film nun die Antwort. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.12.2002)