Foto: Wolfgang Thaler

quot;Nicht allein der freie Stoff, sondern auch das Derbe und Dichte drängt sich zur Gestalt: Ganze Massen sind von Natur und Grund aus krystallinisch; in einer gleichgültigen formlosen Masse entsteht durch stöchiometrische Annäherung und Übereinandergreifen die porphyrartige Erscheinung, welche durch alle Formationen durchgeht." So weit Johann Wolfgang von Goethe in seinen Überlegungen zur Zusammensetzung der Natur (Maximen und Reflexionen) im Allgemeinen, zum Phänomen des Kristalls im Speziellen und zur Stöchiometrie, also der Lehre von der mengenmäßigen Zusammensetzung chemischer Verbindungen und von den Mengenverhältnissen bei chemischen Umsetzungen, die ihre reizendste Ausformung eben in Kristallen aller Art findet. Wie er entsteht, der Kristall, und in welchen Ordnungen er als Ansammlung fein säuberlicher Atome das Licht bricht, ist mittlerweile erforscht, dennoch bleibt der Kristall Sinnbild und Metapher und für Künstler und Philosophen gleichermaßen Ausgangspunkt der Überlegungen.

Jetzt vor Weihnachten hat die "gleichgültige, formlose Masse" ausgedient und das "Krystallinische" feiert auf geheimnisvolle Art und Weise auch im festlichen Alltag wieder Hochkonjunktur, und das liegt wahrscheinlich nicht nur am jetzt hoffentlich in rauen Mengen herabrieselnden Schnee, der seinerseits bekanntlich aus sechssternigen, unter dem Mikroskop reizend anzuschauenden Wasserkristallen zusammengesetzt ist, sondern auch an der aus Kindheitstagen noch in Rudimenten, aber immerhin, ins nüchternere Erwachsenenalter hinübergeretteten Geheimniskrämerei, die Winter und Weihnacht so mit sich bringen, wenn man sich nicht gerade, quasi als Atom eines höher geordneten Systems des Kommerzes, in die wogenden Massen der Weihnachtskonsumisten im Grauen der sterndelig illuminierten Einkaufsstraße einreiht.

So gut wie jedes weihnachtliche Utensil folgt irgendwelchen kristallinen Gesetzen, es blinkt und leuchtet allerorten hexakisoktaedrisch bis ditetragonalbipyramidal, das beginnt bei simplen Lebkuchensternchen, setzt sich fort in Kristallkugeln und anderem Aufputz für die Weihnachtstanne und erlebt einen Höhepunkt, wenn für die weihnachtliche Tafel das urgroßmütterliche Kristallgeschirr aus untersten Schubladen hervorgekramt und entstaubt wird. In den rhomboedrischsten, sprich reduziertesten Wohnungen darf plötzlich klunkern und glitzern, was ansonsten alltags als vorgestrig verpönt ist. Die coolsten Typen leben plötzlich ihren Drang nach Klunkern sozusagen weihnachtlich legitimiert aus, wobei angemerkt werden darf, dass zum Beispiel das Gold hexakisoktaedrisch auskristallisiert, eine Eigenschaft, die es mit Silber, Platin und dem zum Gießen interpretierbarer Gebilde zu Silvester gern herangezogenen Blei teilt.

"Alle Krystallisationen sind ein realisiertes Kaleidoskop", philosophierte Goethe in seinen Maximen und Reflexionen weiter, und in dieses Kaleidoskop der Natur pflegten die Weisen und Denker der Menschheit seit jeher tief hineinzublicken, um allerlei übertragbare Ordnung und reichlich Mythos zu erblicken. "Wir schauen die Götter in den Kristallen an", formulierte etwa der Anthroposoph Rudolf Steiner seine Gefühlswelt angesichts dieser reinen Schöpfungen der Geometrie, die letztlich so penibel geordnet sind, dass sie der Menschheit das Staunen zu lehren imstande waren.

Alles Materielle, so fabulierte der deutsche Architekt Adolf Behne, sei in den Kristallen "besiegt", sein Landsmann Joseph Beuys sah im Kristall "das Fokussierende auf den Todespol hin", und der Maler Max Ernst war einer von vielen Künstlern, die sich vom "Gewebe aus Eisblumen" inspirieren ließen. Paul Klee verfasste ganze Abhandlungen in seinen Tagebüchern über das Kristalline und sich selbst - "Ich Kristall" - und schrieb ganze Traktate über das Kristallische im Wesen der Menschen: "Ob nun der kristallinische Typ aus mir wird? Mozart rettete sich (ohne sein Inferno zu übersehen!) im großen und ganzen in die freudige Hälfte hinüber. Wer das nicht ganz begreift, könnte ihn mit dem kristallinischen Typ verwechseln." Er sah sich selbst als eines jener "gewissen kristallinischen Gebilde, über die eine pathetische Lava letzten Endes nichts vermag".

Die weihnachtliche Kristallzeit ist nun bald wieder vorüber, die Nüchternheit kehrt wieder, Sterne und Zierrat verschwinden, das rhomboedrisch-kühle Mobiliar bleibt über. Halten wir es lieber mit Bruno Taut: "Die Dachneigung einer Hundehütte, der Kubus des ärmlichsten Wohnraums, auch jede Farbe - alles kommt aus dem Strahlenbündel des ,astralen' Kristalls. Es gibt letzten Endes nichts form-loses - bis zur Grenze von All und Nichts." (DER STANDARD/rondo/Ute Woltron/20/12/02)