DER STANDARD: Sie beschreiben einen Sartre ohne Zentrum, der sich im Existenzialismus verliert und zum Intellektuellen des Totalitarismus wird. Am Ende aber gibt es doch Hoffnung.

Bernard-Henri Lévy: Das ist der Coup des Buches. Der späte Sartre war eine Figur des Effekts, ein Phänomen, ein einflussreicher alter Mann, der mit einem jungen Chefmaoisten namens Benny Lévy in Verbindung stand, alias Pierre Victor. Das ist die letzte von diesen Metamorphosen, in der Begegnung mit diesem anderen Mann, der aus der proletarischen Linken kommt und sein Sekretär wird, der nichts von seinen "Ideismen" wusste, der aber auch Emmanuel Levinas nahestand. Ich erzähle von diesem Mann, der heute in Jerusalem lebt, der den Talmud studiert hat. Ich schildere ihn wie einen Geheimagenten des Denkens, der immer die Seine überquert hat zwischen den Wohnungen von Levinas und Sartre, der das Denken des jeweils Anderen transportiert hat. Daraus ist ein außergewöhnlicher Text entstanden:

L'espoir maintenant, der von den Sartreianern völlig unterschätzt wird, der einen neuen Eckstein legt für ein System des Denkens. Es ist traurig, dass Sartre ein paar Tage nach diesem Text gestorben ist. Die berühmte Ethik, die er nie geschrieben hat, erschien plötzlich möglich. Eine philosophische Blockade wurde durch diese verschwiegene Begegnung mit Levinas, mit dem jüdischen Denken, aufgehoben. Die Ethik wird in diesem Moment möglich, ist aber eine Totgeburt.

DER STANDARD: Die französische Philosophie lässt inzwischen ein neues Interesse an Fragen der Gerechtigkeit und der Transzendenz erkennen. Fast immer spielt dabei jüdisches Denken eine entscheidende Rolle, etwa bei Derrida.

Lévy: Offensichtlich. Es geht genau darum. Die Frage, die ich stelle, lautet: Wie findet man eine Moral, wie steht es um die Menschenrechte ohne eine Essenz, ohne einen verbindlichen Sinn des Menschen? Wie steht es um die Universalität der Menschenrechte ohne eine allgemeingültige Humanität? Wie könnte man das jüdische Denken versöhnen mit dem strukturalistischen Denken von Lacan und Foucault, mit dem theoretischen Antihumanismus? Das ist meine zentrale philosophische Frage. Diese Antwort beginne ich mit Sartre.

DER STANDARD: War dessen Engagement, gegen den Kolonialismus, aber auch für den Totalitarismus stalinistischer und maoistischer Prägung, zu dogmatisch?

Lévy: Das Engagement muss gerade den theoretischen Humanismus verweigern. Dass man das wahre Wesen des Menschen wiederfinden kann, das ist Unsinn. Wir müssen von einer undefinierten, problematischen Humanität ausgehen, uns mit einem minimalen Ansatz bescheiden. Genau so wird ein Engagement möglich, das die Falten der Unbedingtheit, des Messianismus, des Sektiererischen, vermeidet. Zum Beispiel auf dem Heldenplatz in Österreich, wo ich die Bürger gegen Haider protestieren gesehen habe: Das passiert nicht im Namen einer Essenz des Menschen, schon gar nicht des österreichischen. Da geht es um Antifaschismus, um Demokratie und Freiheit, aber nicht um Humanismus.

Lévy: DER STANDARD: Sie waren häufig in Afghanistan, und ein deklarierter Freund des ermordeten muslimischen Freiheitskämpfers Ahmed Schah Massud. Was unterschied ihn von den fundamentalistischen Warlords?

Ahmed Schah Massud stammte aus dem Pandschirtal, und er blieb dort. Was mich dorthin gezogen hat, war der Kampf zwischen dem moderaten und dem fundamentalistischen Islam. Wenn es heute noch eine Bedrohung für die Demokratie gibt, dann ist es der islamische Fundamentalismus. Die prinzipielle Waffe dagegen ist der moderate Islam, nicht der Okzident, weil man Muslime nicht zu einem jüdischen Denken, christlichen oder atheistischen Denken bekehren kann. Man kann sie aber zu dem aufgeklärten Islam bringen, wie es ihn schon gibt unter Intellektuellen und mutigen Menschen, bei iranischen Frauen, bei manchen Palästinensern, in Bosnien und wie ihn - auch - Massud verkörpert hat. Er ist nicht liberal geboren worden, er wurde ein Liberaler. Er starb in einer planetarischen Auseinandersetzung.

DER STANDARD: Früher, zur Zeit Sartres, galten die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt als politische Hoffnungsträger. Heute erscheinen sie häufig in erster Linie destruktiv.

Lévy: Ich habe Hoffnungen. Nach dem Buch über Sartre habe ich Reflexionen über den Krieg geschrieben, Reiseerzählungen über die Orte des Unglücks und der Zerstörung. Ich habe das Böse in der Geschichte aufgesucht. Das ist ein sehr schwarzes Buch. Ich hätte aber diese Reise nicht gemacht, wenn ich keine Hoffnung gehabt hätte, diese schreckliche Logik auf den Kopf zu stellen. Ich habe immer die Hoffnung beizutragen, dass die Welt besser wird. Als ich im Jahr 2000 nach Wien kam, erlebte ich diese formidable Mobilisierung der Citoyens. Und sie hat gewonnen! Die Journalisten, die Jugend, die Linke, die wieder zusammengefunden hat, die gute Rechte - es sieht so aus, als würden sie Haider loswerden. Ich wäre gar nicht auf den Heldenplatz gegangen, wenn ich nur gedacht hätte, meine Trauer auszudrücken. Ich war gekommen, um zu kämpfen. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.12.2002)