- und mein Nachbar ist rund eineinhalb Köpfe größer als ich. Mindestens. Seine Frau reicht mir gerade bis zu Schulter. Schreien kann sie aber trotzdem. Jedenfalls gellte da ein nicht gerade nach Wonne klingender Schrei (“Lass mich in Ruhe”) durch die geschlossene Wohnungstür. Gefolgt von einem “bist du deppert” - und einem ziemlich lauten Rumpler. Stille.

Ich war gerade mit ein paar Einkaufstaschen auf der Treppe. Unmittelbar vor Nachbars Tür. Hinter der jammerte jemand. “Du Schwein. Du Schwein. Du Schwein.” Dann knallte es. Zweimal. Und eine Männerstimme brüllte, er werde dafür sorgen, dass die Wimmernde in die Psychiatrie komme. “Dann sehen die wenigstens alle blauen Flecken,” kam schluchzend zurück. Während ich auf den Klingelknopf drückte, wählte ich die Nummer der Polizei - und wunderte mich, dass die beiden lebenden Datenträger, die bei uns im Haus sonst nicht einmal das Furzen eines Meerschweinchens überhören, geradezu demonstrativ nirgendwo zu sehen waren.

Scherben und Tränen

Als die Tür aufging hatte ich den Daumen am “Send”-Knopf. Aber auf die Polizei würde man wohl noch warten können. Beschloss ich aufatmend. Denn statt meines großen Nachbarn stand da sein halbwüchsiger Sohn. Mit dem würde ich es (gerade noch) aufnehmen können. Hinter ihm kauerte ein Mädchen am Boden. Mit blutigen Händen. Verheult. Ringsum lagen Scherben. Nein nein, schluchzte das Mädchen, es gehe ihr gut. Ich solle bitte wieder gehen. Ich stellte den Fuß in die Tür - aber das wäre gar nicht nötig gewesen.

Ja, sagte der Jüngling wenig später, er habe das Mädchen geschlagen. Zuerst gerempelt, dann zwei Ohrfeigen. Aber er habe nicht gewusst, was er sonst hätte tun sollen: Er hatte gerade Schluss gemacht - und sie hatte daraufhin ein Bild zerschlagen und versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. “Sie wollte die Scherben nicht fallen lassen.” Bei der zweiten Watsche habe sie dann die Scherbe losgelassen.

Das Mädchen bestätigte das. Nicht mir, sondern A. Die war durch den Krach zwei Stockwerke unter unserer Wohnung ebenfalls aufgescheucht worden und stand plötzlich (das Handy mit der 133 am Display in der Hand) auch in der Tür. Alle unsere - sonst so präsenten und mitteilungsfreudigen - Nachbarn dürften gerade an diesem frühen Abend kurzfristig verreist gewesen sein. Und zwar ganz weit weg.

Ein Klassiker

A. verfrachtete den jungen Mann (mit mir) in ein anderes Zimmer und brachte das Mädchen dazu, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Es war der Klassiker: Klassenkollegen. Erste große Liebe gewesen. Erste große Trennung. Mit allem drum und dran: Nächtelangem Sturmläuten, Telephonterror und ewigen, sinnlosen Erklärungseinforderungen. Nach zwei Stunden war das Mädchen so weit, eine Freundin anzurufen und zu ihr zu gehen. Der junge Mann kehrte die Scherben zusammen. Als wir gingen, erklärte er noch einmal, froh zu sein, dass wir uns eingemischt hatten. Er hätte nicht gewusst, wie er alleine mit der Situation fertig werden hätte sollen. “Wenn ihr ein blödes Gefühl habt, dann ruft lieber jetzt noch die Polizei”, sagte er - und das klang gar nicht trotzig.

Als wir aus der Wohnung kamen, standen die Nachbarinnen genau da, wo sie sonst auch immer stehen und schauten uns interessiert an. “Was war denn los?” fragte eine ­- und keppelte etwas von “sowas von unhöflich” und “unter Nachbarn sollte man schon miteinander reden”, als wir wortlos vorbeigingen.

NACHLESE

--> Drei Zentimeter
--> Noch ein Zimmer
--> Eleanor Rigby
--> Quartierschreberei revisited
--> Tödliches Holz
--> Im Horst des Falken
--> Schreber- und Kunstgärtner
--> Jelinek
--> Systemunterhaltung
--> Thermendesaster
--> Grabsteinland
--> Laxenburger Herbst
--> Der Zehenmann
--> Eine Straßenbahnfahrt
--> Kaderkaraoke
--> Die Chefsekretärin der Pressestelle lädt ein"
--> Eingetragene Marke "Fernando"
--> Kreativität braucht ein Büro
--> Das Einzelsockenmysterium
--> Abstumpfen im Hochwasser
--> Simmering unter Sternen
--> Gruß an die zugestiegenen Fahrgäste
--> Von oben
--> Trägheit und Minigolf
--> Schaumgummikünstlers Assistent
--> Starbucks ist super
--> Im Swingerclub
--> Mit dem Twingo gegen die Monotonie
--> Im Museumsfreibad
--> Watschen für Othmar
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