Ronald Pohl

Wien - An den blutgetränkten, zugleich schockgefrorenen Kinowerken des Kanadiers David Cronenberg (er feiert am 15. März seinen 60. Geburtstag) lässt sich mühelos ablesen, welche Erfahrungen die Filmkunst mit dem Theater sozusagen naturwüchsig teilt - und was die geschwisterlichen Künste strikt voneinander unterscheidet. Schon die Antike plagt sich mit der grauenhaften Hinfälligkeit des Körpers: Müht sich ab an einer Zwangsherrschaft, die Mühsal über die Leiber verhängt, indem sie diese buchstäblich zum Zerreißen bringt.

Der antike Held erfährt die Geltungsansprüche diverser Götterrechte am eigenen Leib. Bereits Ödipus macht sich unwissend schuldig, indem er die überkommenen Reproduktionsverhältnisse durcheinander bringt. Er zeugt Fleisch vom eigenen Fleische, das zugleich dem Fleisch seiner Mutter zugehört, und gefährdet damit die unverbrüch- liche Ordnung der Generationenfolge. Schlimmer noch: Er empfindet dabei Lust und "erfindet" jene urfamiliäre Szene, an der sich unser Triebleben fortan misst.

Am humorig verschmitzten Ende der kinematografischen Skala steht - vielleicht - Loriots Ödipussi. Am anderen Ende findet man Cronenbergs geniale Zumutungen: 14 Langfilme, ein elastisches Hautband, das sich von den frühen Horrorfilmen mit Beuschel-Zuwaage wie Shivers (1975) hin zu den erstarrten Melodramen der Kunstfilmära spannt - Letztere Goethe-Institut-tauglich und mit Goldenen Palmwedeln bewehrt.
Mit Cronenberg gerät die instrumentelle Vernunft des dediziert wissenschaftlichen Zeitalters an den Rand ihrer eigenen Zurechnungsfähigkeit. Es gibt gar nicht wenige Deutungsversuche, die Cronenbergs Arbeit am Schneidetisch mit der Handhabung eines Skalpells verwechseln: Der Filmautor, der das katastrophale Wuchern von Fleisch und Gewebe schockartig vorführt, beansprucht in den Augen seiner gläubigen Gemeinde die Weihen des spekulativen Forschers.
Aber Cronenberg reißt bloß die Scheuklappen uralter Einbildungskraft herunter. Er ersinnt hunderterlei Ausflüchte, um die tragische Zwangsherrschaft der geschlechtlichen Reproduktion, die lähmende Einteilung in Mann und Frau zu überwinden - mitsamt ihren trübseligen Verkennungen und Fantasien. Wie der in M. Butterfly (1993), dass ein chinesischer Opernsänger die begehrenswerteste aller Asiatinnen sei.

Er steckt verrückte Erfinder in Arztkittel. Baut rund um sie herum hochmodernistische Fluchtburgen aus Beton. Und das Kameraauge hält unbarmherzig drauf auf schaurige Implantate und Gewebsfetzen, während die Biowissenschafter etwas von "positiver Zellwucherung" und "psycho- plasmatischer Revolution" schwatzen.
Nun liegt es in der Tragik dieser Filme, dass die Herrschaft der Zeichen in Wahrheit noch schwerer wiegt als die Hoffnung auf ein Gewebe, dessen neutrale Beschaffenheit das Begehren der Körper endgültig besiegt. Cronenberg kodiert Zellkerne. Er mobilisiert psychische Kräfte und schickt sie in die gesellschaftliche Arena, wo die Menschen in atemberaubend schönen Settings aus Rot, Blau und Gelb sich selbst abhanden kommen: ihrem reproduktiven Daseinszweck.

Und während sich also das Theater mit den gesellschaftlichen Kontrollmächten herumplagt, wirft Cronenberg einen geradezu verschämten Blick auf eine Zukunft, die sich kein klonender Biotechnologe auszudenken vermag, in der das Leiden der Geschlechtlichkeit überwunden scheint und vielleicht andere, monströsere Probleme beginnen. Auf dem Heiligenantlitz des übersinnlich begabten Christopher Walken in Dead Zone (1983), auf der todtraurigen Miene Jeremy Irons', des Zwillingswesens Elli und Bev Mantle in Dead Ringers (1988), liegt ein Abglanz dieser Hoffnung, die zugleich eine neue Hölle ist.