Brigitte Voykowitsch Mehr als 500 Kilometer Busfahrt liegen vor uns. Angesichts des Zustands der Straße, die von Delhi weg gegen Norden führt und sich Stunden später auf 1800 Meter hinauf zu winden beginnt, wird es eine holprige und lange Reise, unterbrochen nur durch einen späten Abendessen-Stop und eine Teepause irgendwann in der Nacht. Durchgerüttelt erreichen wir nach mehr als zwölf Stunden Fahrt Dharamsala, genauer gesagt den höchsten Teil des Ortes, McLeod Ganj, in dem der Dalai Lama seit 1960 seinen Sitz hat. Genau 40 Jahre ist es her, daß das geistige und weltliche Oberhaupt der Tibeter nach dem Aufstand gegen die chinesischen Besatzer die Flucht aus seiner Heimat ergriff und am 31. März 1959 die indische Grenze erreichte. Ein Jahr danach ließ er sich in McLeod Ganj am Fuße des Himalaya nieder. Über den schneebedeckten Fünf- und Sechstausendern geht bei unserer Ankunft gerade die Sonne auf. In der klirrenden Morgenkälte sind die Buspassagiere bald in ihren Unterkünften verschwunden. Doch schon wenige Stunden später begegnen wir einander im Restaurant des Hotel Tibet aufs neue. Diesmal sind die Tibeterin und ihre Eltern gesprächiger und stellen vor: die Verwandten - unter ihnen die drei noch lebenden Schwestern des Vaters, der mit einem Teil der vielköpfigen Familie ebenfalls vor 40 Jahren nach Indien floh. Nun sind die Frauen, die zurückgeblieben waren, per Bus aus Lhasa angereist, zum ersten derartigen Familientreffen nach langer Zeit. Während von den Momos (mit Gemüse, Käse oder Fleisch gefüllten Teigtaschen), die im Winter gerne in heißer Suppe gegessen werden, der Dampf aufsteigt, werden alte Fotos herumgereicht. Über Tibet reden zwei Tische weiter auch zwei Amerikanerinnen, wenn auch aus anderer Sicht. In die vor Ort erhältlichen dicken, bunten Strickpullis gehüllt sind sie, wie so viele AusländerInnen hier, zu Studien der tibetischen Sprache und Kultur gekommen, die von der "Library of Tibetan Work and Archives" rund ums Jahr veranstaltet werden. Was sonst noch alles im Angebot ist an diesem Pilgerort der Esoteriker, erfährt man allenthalben von Anschlägen an Bäumen oder Hausmauern. Yoga, Meditation, Massage und dergleichen mehr gibt es da. Darben muß man nicht. Auch nicht kulinarisch. Wer zur Immersion in die Welt der Tibeter oder zum Trekken schon so weit in die Ferne schweift, kann im Green Hotel über Cappuccino, Karotten-, Schokolade- und sonstige Torten - und fünf Computer mit Internetanschluß - den Draht zur westlichen Welt aufrechterhalten. Und wenn ein persönliches Treffen mit Richard Gere für die meisten Irdischen auch unerreichbar bleibt, so können die Dharamsala-Besucher zumindest Lokale frequentieren, an denen der Dalai-Lama-Freund bei seinen Aufenthalten hier verkehren soll. Anders als Gere wird gewöhnlichen Sterblichen nur ein kurzer Händedruck mit dem Dalai Lama bei dessen öffentlicher Audienz (Anmeldung beim Security Office nahe dem Hotel Tibet) gewährt. Zu dieser Audienz zieht es fast alle vor Ort anwesenden Fremden, ob Westler oder aus der Ferne angereiste Tibeter. © DER STANDARD, 26. März 1999 Automatically processed by COMLAB NewsBench