Mehr Fotos aus Lhasa zeigt eine Ansichtssache.

Foto: Knut Rakus

Es fällt mir schwer in Worte zu fassen, was ich für Lhasa empfinde. Noch schwerer in Worte zu fassen ist, was ich hier in Lhasa für Lhasa empfinde. Was habe ich erwartet? Was war der Traum aus der Kindheit, angefacht von mehrmals „verschlungenen" Harrer-Büchern? War nicht klar, dass der chinesische Einfluss stark spürbar sein würde? Wohl schon, aber irgendwo tief drinnen hab' ich wahrscheinlich doch naiv gehofft, meine Vorstellung von Shangri-la vorzufinden. Der "Mythos" Tibet existiert hier auf den ersten Blick auf jeden Fall nicht, nur wer in die Tiefe gräbt und auf Details achtet, findet Reste, Teilaspekte von Tibet.

Ansonsten findet man sich heute, nüchtern betrachtet, in einer chinesischen Stadt wieder. Angeblich sind mehr als zwei Drittel der Einwohner Lhasas Chinesen. Die sind es auch, deren ökonomische und politische Macht das Stadtbild prägen. Erstere offenbart sich, wenn man das kleine tibetische Viertel rund um den Jokhang Tempel, der heiligsten Stätte des tibetischen Buddhismus, verlässt. Neu errichtete Einkaufsstraßen und Shopping-Malls geben der Stadt mit ihren Neonreklamen und Glasfassaden ein völlig anderes Erscheinungsbild, als man es in den kleinen, engen Gassen des tibetischen Viertels vorfindet.

Als Tourist ist es schwierig, dem Einfluss der Chinesen zu entgehen. Nahezu sämtliche Eintrittsgelder werden von Regierungsstellen eingehoben und verwaltet, Reisebüros, Taxis und alle gehobeneren Hotels sind fest in chinesischer Hand. Außerdem leidet man an der rigiden Visa-Situation, doch dazu andernorts mehr. Lediglich die Gassen des tibetischen Viertels mit seinen Suppenküchen, Handwerkern und Kleinwarehändlern, sowie den wenigen Budget-Unterkünften, werden von Tibetern belebt und betrieben.

Wer von Westen in die Stadt fährt, dessen Blick wird sofort vom wohl bekanntesten Bauwerk Tibets, dem Potala-Palast, der erhaben auf einem Hügel über der Stadt thront, gefangen. So überblickt quasi ein tibetisches Wahrzeichen eine chinesische Stadt.


Der Potala Palast in Lhasa.

In seiner heutigen Form existiert der Potala seit ca. 1690 und galt lange als einziges Hochhaus der Welt. Die Gegenwart des Potala ist aber eher traurig. War er gut 300 Jahre Sitz des Dalai Lama, gleicht er heute einer leeren Hülle. Zwar sind eine Vielzahl der Reliquien an ihrem Platz verblieben, so beispielsweise die Grabstätte des 5. Dalai Lama, dem es gelang, Tibet unter seiner politischen und religiösen Herrschaft zu vereinen. Sein Grabmal (Chörten) ist fast 13 Meter hoch und mit 3700 Kilogramm Gold geschmückt. Doch trotz all der prunkvollen Kultstätten, ist der Potala leblos (und auch völlig unbewohnt). Viele Räume sind leer, bis auf den Aufpasser der sicherstellt, dass sich die Besucher entsprechend verhalten und brav wie Herdentiere durch das Gebäude trampeln (auch hier ist die Menge der chinesischen Bustouristen unvorstellbar). Oftmals wird man auch mehr oder weniger zum weitergehen aufgefordert, damit die nächste Herde den Raum abgrasen darf. Fotografieren ist im gesamten Gebäude und auch am Dach verboten.

Der Jokhang Tempel

Neben dem Potala besuchen wir noch Drepung und Sera, ehedem - neben dem etwas außerhalb liegendem Ganden - die bedeutendsten Klöster des tibetischen Buddhismus. Beide sind heute nur noch Schatten ihrer selbst, nichtsdestotrotz aber beeindruckend. Der Höhepunkt für mich in Lhasa ist aber der Jokhang Tempel und das umliegende Barkhor Viertel.

Nachdem die verordnete offizielle Tour durch den Johkang Tempel doch eher mühsam, weil im Pulk von hunderten Touristen eingeschlossen, war, hatte ich beschlossen, mir das ganze nochmal genauer anzuschauen und zu versuchen hinter den Deckmantel der "Tourismusattraktion Jokhang" zu blicken.

Am frühen Abend schmuggle ich mich also durch den Seiteneingang ins Areal. Außer mir sind ausschließlich tibetische Pilger anwesend. Schweigend und tief bewegt schleiche ich durch das Heiligtum und bin so mittendrin im spirituellen Glück der Pilger. Alle Pilger haben Opfergaben mitgebracht - vor allem Yakbutter dominiert, in flüssiger oder fester Form. Einige Pilger haben Tränen in den Augen, für viele ist mit dem Besuch hier ein Lebensziel erreicht. Manche haben die gesamte Distanz hierher durch ständiges Niederwerfen hinter sich gebracht und so die gesamte Strecke mit ihrem Körper vermessen. Der Geruch von Butterkerzen und Räucherstäbchen erfüllt die Luft, Gebetsmühlen werden gedreht, Gebete gemurmelt, Kultgegenstände mit der Stirn berührt, weiße Seidentücher (Kathas) um besonders wichtige Gegenstände gelegt. Es ist für mich ein sehr intensives Erlebnis, einfach hier still in der Ecke zu stehen, die Eindrücke auf mich wirken zu lassen und Stichworte in mein Notizbuch zu schreiben.

Begegnung mit einem Mönch

Ein alter Mönch sieht mich Notizen machen und humpelt mühsam zu mir herüber. Ernst blickt er mir in die Augen, berührt meine schreibende Hand, fesselt meine Aufmerksamkeit - seine Augen sind alt und müde, als hätten sie schon viel gesehen. Mir kommt vor als würde er mich ermutigen, möglichst viel aufzuschreiben und hinaus in die Welt zu tragen. Damit sein Land, seine Kultur und Geschichte nicht verstummen.

Um das innere Heiligtum verläuft, wie in so gut wie jeder Stätte des tibetischen Buddhismus, ein Rundweg, die so genannte Kora. Dieser Weg ist normalerweise, auch hier, von Gebetsmühlen gesäumt, die von jedem Pilger gedreht werden und so praktisch nie still stehen. Auf jeder ist ein Mantra festgeschrieben, welches so bei jeder Umdrehung "gesprochen" wird. Die Kora im Jokhang Tempel ist wohl die meistbegangene in Tibet, ja wahrscheinlich auf der ganzen Welt. Seit vielen Jahrhunderten (der Jokhang wurde im 7. Jahrhundert n. Chr. errichtet) schreiten hier Pilger andächtig um das Gebäude. Der Steinboden ist von den Millionen Füßen blank gewetzt und auch hier sieht man viele den Weg durch rituelles Niederwerfen mit dem Körper durchmessen.


Die Kora im Jokhang Tempel ist wohl die am meisten begangene der Welt.

Wie in Trance bewegt sich die Masse, ich schwimme in diesem Strom mit und verharre immer wieder um Notizen zu machen. Dabei blicken mir immer wieder einige Tibeter neugierig über die Schulter. Die Stimmung ist beeindruckend. Der Glaube dieses Volkes scheint nicht auslöschbar zu sein, auch nicht durch eine so genannte Kulturrevolution. Erniedrigt durch die Vernichtung vieler Kultstätten (gab es 1959 beispielsweise noch 2700 Klöster, so waren es 1978 noch ganze acht), hat dieses Volk vieles ertragen und trotzdem seinen Glauben und die daraus geschöpfte Kraft nicht verloren. Aber werden sie auch der modernen Konsumgesellschaft widerstehen können? Nach einiger Zeit strömt die gesamte Pilgerschar wieder ins Innere des Tempels.

Die Zeremonie der Mönche

Dort versammeln sich mehr als hundert Mönche zur allabendlichen Zeremonie. Lautstark werden dabei Texte intoniert, wie in Trance wippen die Mönche im Takt der Worte. Ein Mönch rezitiert den ersten Satz und sofort fallen die Anwesenden ein und ein tiefer grummelnder Gesang erfüllt den Raum. Rundherum umschreiten hunderte Pilger ehrfürchtig die Gruppe der sitzenden Mönche. Mittlerweile haben auch ca. zehn Ausländer den Weg hierher gefunden. Wie gebannt stehen wir unauffällig am Rand, unfähig den Blick von dem Treiben abzuwenden. Obwohl ich mich nicht wirklich gläubig im Sinne einer einzelnen Religion nennen kann, hat diese Demonstration an geballtem Glauben doch eine starke Wirkung auf mich. Zumal es leicht zu erkennen ist, wie sehr die Menschen Stärke aus ihrem Glauben beziehen.

Eine Rückkehr des Dalai Lama scheint angesichts der potentiellen Massenhysterie schwer vorstellbar, zu groß wäre allein das durch die unglaubliche Pilgerzahl manifestierte Machtpotential. Schon jetzt ist die Menge der Gläubigen, die sich täglich um den Jokhang und im Barkhor Viertel einfinden, schwer zu kontrollieren. Eine hohe Inkarnation würde ungeahnte Massen in Bewegung setzen. Angesichts derer wäre jedes Militäraufgebot lächerlich und könnte sich wohl nur mit absoluter Gewalt durchsetzen um seinen Machtanspruch zu halten.

Wir bleiben länger in Lhasa als geplant, verbringen viel Zeit am Bharkor und in den umliegenden Klöstern, ehe wir uns in einem gemieteten Jeep zu einer längeren Tour ins Umland aufmachen. Hier werden wir, wieder abseits des Ballungsraumes, ein ursprünglicheres Tibet finden. (Knut)