Etwas lesen, das bisher in der Literatur nicht vorgekommen ist: Carl Djerassi.

Foto: Heribert Corn

Will man etwas lesen, was in der Literatur noch nicht vorgekommen ist - bei diesem Buch ist man richtig. Schon seit langem überrascht der berühmte U.S.-amerikanische Chemiker Carl Djerassi, dem wir die "Pille" verdanken, durch respektlose Weiterentwicklung literarischer Gattungen seine zahlreichen Leser in aller Welt. Die Mehrzahl seiner Romane und Dramen gehört einer neuen, vom Autor selbst definierten Gattung an, der "Science-in-Fiction" bzw. der "Science-in-Theatre" , die die Naturwissenschaft literarisch präsentiert. Zunächst wollte Djerassi mit diesem Genre das (natur-)wissenschaftlich weitgehend unbeleckte Publikum auf angenehme Weise belehren.

Gleichzeitig jedoch nahmen diese Texte die höchst idiosynkratische "Stammeskultur" der Naturwissenschaften kritisch ins Visier und demonstrierten so die kulturelle Gebundenheit und Relativität von Wissenssystemen, die sich gerne als exakt und objektiv geben.

In Djerassis neuestem Text geht es aber nicht um Naturwissenschaft und deren Protagonisten, sondern - man reibt sich die Augen - um gleich drei Größen der deutschsprachigen Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts: Adorno, Benjamin und Scholem, sowie einen Musiker, Arnold Schönberg. In Nebenrollen treten deren Ehefrauen auf, ganz zum Schluss Hannah Arendt, und im Hintergrund des Stückes immer präsent, der Maler Paul Klee.

Djerassis "Gespräch" zwischen diesen vier monumentalen Figuren ist ein extremes Wagnis. Jede dieser Persönlichkeiten - allen voran Walter Benjamin - beschäftigt mittlerweile ganze Schulen von Spezialisten und mit jedem könnte man Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, verbringen, um neben dem umfangreichen Werk die noch weitschweifigere Sekundärliteratur aufzuarbeiten. Es mag Spezialisten geben, die sich über die Leichtigkeit, mit der ein Ex-Chemiker einen Salon voller Geistesgrößen auf einer imaginären Bühne versammelt, empören werden.

Der Versuch ist dennoch geglückt, denn Djerassi hat mit extremem Aufwand (die reichhaltige Bibliographie und die umfangreichen Danksagungen zeugen davon), mit großem Fingerspitzengefühl und etwas Finderglück dokumentarisches Material auf eine Weise montiert, die Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit dieser Figuren um einiges deutlicher macht, als dies bei einer separaten Darstellung der Fall sein könnte.

In anderen Worten, Dialog und Drama schaffen einen Mehrwert an Einsicht in wesentliche Themen der Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Dazu kommt noch die umfangreiche Aktivität eines höchst intellektuellen Stage Managers, der in einführenden Bemerkungen und Zwischentexten provozierende Fragen stellt, aber auch Hintergründe erhellt, die das Buch auch für weniger einschlägig vorbereitete Leser und Leserinnen zugänglich machen.

Eitelkeit, Nobelpreissucht

Viele der von Djerassi für Naturwissenschaftler definierten Stammescharakteristiken gelten auch für Geisteswissenschaftler und kreativ Schaffende. Die Frage, ob und wie sie es auf den Parnass geschafft haben, ist ein Pendant zur Eitelkeit und Nobelpreissucht der Naturwissenschaftler - und das Erreichen dauernden Nachruhms oft genauso zufällig.

Der heute vielleicht bedeutendste von ihnen, Walter Benjamin, schaffte es zu Lebzeiten nicht hinauf, sondern erst durch die Propagierung seiner Arbeit durch Adorno und Arendt - ähnlich wie manche naturwissenschaftliche Nobelpreise durch Interventionen zustande kommen, die außerhalb der Forschungsleistung selbst liegen. Der undurchsichtige Prozess der Kanonisierung, ein Schlüsselthema der Geisteswissenschaften, wird hier auf äußerst witzige Weise hinterfragt.

Ganz wie ihre naturwissenschaftlichen Kollegen haben auch die männlichen Einwohner des Parnass die Tendenz, die Beiträge ihrer Ehefrauen und Partnerinnen zu ignorieren. Bereits in früheren Texten gelang es Djerassi, durch Einbezug von Ehefrauen und Wissenschaftlerinnen monolithische Wahrheiten aufzubrechen. In der zweiten Szene der "Vier Juden" treten die Ehefrauen Gretel (Adorno), Dora (Benjamin), Escha (Scholem) und Mathilde (Schönberg) mit ihren Männern in teilweise sehr harte Dialoge um Sexualität, Macht und Nachruhm, die die Geistesgrößen zwar nicht entscheidend beschädigen, aber doch sehr stark vermenschlichen.

In Szene drei geht es um eine Zentralfigur des Textes, die allerdings nicht auftritt, Paul Klee. Hier kann Djerassi, weltweit einer der bedeutendsten Klee-Sammler, sehr umfassende Kenntnisse und Erfahrungen einbringen, und gerade hier wird die bemerkenswerte Fotokunst von Gabriele Seethaler zu einer notwendigen zweiten Ebene der Handlung. Benjamin, Adorno und Scholem waren nacheinander Besitzer eines Werks von Klee, Angelus Novus, das durch einen Essay Benjamins über den "Begriff der Geschichte" bekannt wurde.

In einem komplexen Argumentationsgang wird - vor allem von Schönberg, dem Außenseiter unter den vier, durch den man manchmal Djerassis Stimme hört - nicht nur Benjamins These als wenig evident nachgewiesen, sondern in einer Serie von Fotomontagen sogar behauptet, dass Klee mit diesem "neuen Engel" , entstanden 1920, auf den in München schon aktiven politischen Agitator Adolf Hitler verwiesen haben könnte.

Klee und die Musik

Noch wichtiger für die Thematik der genreübergreifenden Rezeption, die das ganze Stück prägt, ist die hier vermutlich erstmals aufgezeigte Bedeutung Klees für die Musik. Die Mitgliedschaft Schönbergs in dieser Gruppe ist natürlich eine gute Möglichkeit, auf diese wichtigen intermedialen Zusammenhänge hinzuweisen. Klee und die Musik ist eine Variante des übergreifenden Themas von Djerassis Stück, nämlich der intellektuellen und künstlerischen Einheit des 20. Jahrhunderts, die hier sichtbar wird.

Wie vom Titel hervorgehoben, handelt es sich um ein jüdisches Quartett, das sich hier trifft, aber diese Kategorie wird hier vor allem aufgegriffen, um in ihrer Vielschichtigkeit relativiert zu werden. Djerassi selbst entstammt zwei sehr verschiedenen jüdischen Milieus, dem Wiener Bürgertum und dem sephardischen Judentum seines bulgarischen Vaters. Bis vor kurzem tauchten Juden eher indirekt in seinen Werken auf; er selbst sah sich mehr als Mitglied einer universalistischen Gemeinschaft kreativer Menschen.

In den "Vier Juden" hingegen treten verschiedenste Varianten auf: der deutsche jüdische Nicht-Jude (Adorno), der zwischen dem Status als deutschem Juden und jüdischem Deutschen Schwankende (Benjamin), der zionistische Jude (Scholem) und der österreichische Jude (Schönberg). Seethalers Fotomontagen verfremden das, was üblicherweise als "jüdisches Äußeres" bezeichnet wird, und zwar bis zu dem extremen Punkt, wo Hitler selbst "jüdisch" aussieht - womit die Absurdität der Diskussion bewiesen ist.

Dass das Judentum aus der Logik des Stücks nicht allein mit der Abstammung definiert werden muss, zeigt die Charakterisierung des Nichtjuden Klee als "kulturellen" Juden, dessen Werke, wie wir in vielen Abbildungen deutlich sehen, vom jüdischen Symbolismus durchdrungen sind.

Während die ersten vier Szenen dokumentarisch außerordentlich gut belegt sind, führt die letzte, betitelt "Benjamins Aktentasche" , in eine höchst vergnügliche Spekulation. Benjamin, der auf der Flucht vor den Nazis in den Pyrenäen Selbstmord begangen hatte, trug angeblich eine schwere Tasche mit sich, deren Inhalt die Fantasie von Benjaminologen beflügelt hat. Djerassi kommt hier zu einer schlüssigen Erklärung, die nicht verraten werden soll. Sie ist gleichermaßen dem Temperament des Autors wie dem des Philosophen geschuldet.

Carl Djerassis sehr innovatives und absurd-komisches Buch, dessen High-Tech-Parnass mit Internetanschluss (aber natürlich ohne E-Mail!) ausgestattet ist, wird durch die aufwändige und wunderschöne Bildgestaltung auch zu einem bibliophilen Erlebnis, das man nicht versäumen sollte. AD PARNASSUM!

(Walter Grünzweig, ALBUM/DER STANDARD, 02.08/03.08.2008)