Er sei es auch nie gewesen, antwortet Paul, der um einen tieferen Sinn dieser schlichten Worte weiß, auf den Ausruf eines Kameraden, welcher entsetzt hatte feststellen müssen: "Du bist keiner mehr von uns!"

Davor hatte Paul einen besudelten Putzfetzen gegen das Gesicht seines Zeichenlehrers geworfen - kein Akt jugendlicher Rebellion, sondern eine Art Initationsritus eines neuen, durch eine göttliche Vision angekündigten Lebens der Besinnung auf seine eigenen Fähigkeiten und Anlagen. Ein Moment des Zurücklassens, des mit brennendem Herzen Sich-Abhebens von einer schwer lastenden Normalität.

Die Vision, die eineinhalb Stunden angedauert hatte, während derer der Bub durch eine transparente, schillernde Kruste bis auf den hell leuchtenden Erdkern hinabsehen konnte, hatte Paul verständlicherweise tief beeindruckt: "Die Gedanken kehrten zurück und verlangten von mir mit schöner Beharrlichkeit, mich zu meiner Merkwürdigkeit zu bekennen und endlich ganz die Verantwortung für dieses Kind zu übernehmen, das ich war und das mir anvertraut war."

Eine doppelte Belastung also, mit der Paul umgehen muss - jener erst zwölfjährige Knabe, den André Heller, Wiener Ikone der späten Sechzigerjahre, in seiner diese Woche im Fischer Verlag erscheinenden neuen, etwas holprig mit betitelten Erzählung die bedeutungsvolle Andersartigkeit seiner Person erleben lässt.

Verwirklichungen

Liest man auf dessen Internetseite André Hellers Biografie, so scheinen die Stationen von Hellers Leben als "Verwirklichungen" auf. Diese Neigung zur Selbstbewertung, die sich hinter einer solchen Begrifflichkeit vermuten lässt, will der Autor mit seiner Figur teilen. Paul, bei dessen Beschreibung Heller, wie er dem dünnen Büchlein voransetzt, einige Themen und Begebenheiten aufgreift, "die meine Kindheit für mich bereithielt", er die "Oberhand" allerdings der Fantasie überließ, kämpft sich wie in einem Spießrutenlauf durch unentwegt ihm abverlangte Verwirklichungen.

Aber womöglich kann man sich als Sohn des Süßwarenfabrikanten Silberstein, den die naturgemäß eher unumgängliche, übermächtige Vaterfigur in eine erzkatholische Erziehungsanstalt verbannt hat, diesem Verwirklichungszwang schwer entziehen. Zumal nach dem "zu Tode Kommen" dieses Vaters die wie skurrile Alptraumgeister aus Amerika angereisten jüdischen Onkel den Familiennamen wie Handelsreisende bei dem soeben Halbverwaisten bewerben. Immerhin habe der Kaiser selbst stets Silberstein-Konfekt im Hosensack bei sich getragen.

"Geboren wird man als Entwurf zu einem Menschen, und dann muss man Zeit seines Lebens aus sich einen wirklichen Menschen machen", sieht der Knabe, dem nun auch die Last der sagenumwobenen Großbürger-Dynastie auferlegt wurde, selbstkritisch ein.

Die zum Begräbnis versammelten Familienzweige finden mit eckigen Bonmots über die Juden und den katholischen Gott zusammen. Wie in allen Familien ist dann die Mutter ein wenig überspannt, und der Bub stellt voll kindlicher Naivität den Erwachsenen schlaue Fragen: Ahnt er doch diffus "wie viel an Schlachten, Auflösungen, Reinigungen, Studien, Triumphen und Rückschlägen, wie viel an Erfahrungen mit Sackgassen, Wartezimmern, Schrecken und schönen Zuwendungen es bedurfte, um aus mir dereinst einen Menschen halbwegs nach meinem Geschmack zu machen".

Lichtgestalten

So eigenwillig André Heller in dieser Erzählung, die mit dem Tod des Papstes anhebt, die Hoheitsfantasien seiner selbstfixierten Jugendfigur mit Fragmenten einer hochtrabenden Familiengeschichte und halbesoterischen Lebensweisheiten zu ein paar flotten Kapitelchen vermischt, so eigenwillig endet sie, ungebrochen bedeutungsschwer, mit dem Auftreten einer Lichtgestalt, deren exaktes Ausmaß Paul als Abbild eines Codeworts für den Hitler-Gruß misst.

Das allerdings schillernde Bild dieses von der Welt herausgeforderten Knaben, dem die Menschwerdung, allen katholischen Widrigkeiten zum Trotz, mit Engeln, Ego und viel Licht gelingt, wird seine Leser finden. (Isabella Hager, ALBUM/DER STANDARD, 09./10.08.2008)