Die neapolitanische Unterwelt ist mächtig - der größte und wichtigste Friedhof der Stadt liegt unter der Erde, und das gesamte Wegenetz beträgt rund achtzig Kilometer.

Foto: Napoli Sotterranea

Die Via dei Tribunali im Quartieri San Lorenzo ist eine neapolitanische Gasse wie aus dem Mezzogiorno-Bilderbuch. Der Himmel ist schmal geworden in diesem Stadtteil. Genau betrachtet, hat er sich in einen blitzblauen Streifen über Schluchten schlecht verputzter Fassaden verwandelt, und statt Wolken segeln hier die üblichen Wäschestücke im monochromen Blau. Alle Nebengeräusche des prallen Lebens erfüllen die enge Gasse. Selbst das Schweigen der Madonnen in ihren verglasten Mauernischen zählt irgendwie dazu - so klingt das Gekeife aus den darüberliegenden Fenstern noch ein wenig lauter.

Sinnlicher als hier, im Herzen der Altstadt, wird es wohl kaum. Denn seit die ersten neapolitanischen Müllsäcke Anfang dieser Woche die nordrhein-westfälischen Verbrennungsanlagen erreicht haben, schwebt tatsächlich wieder jene gut balancierte Note aus Anchovis und Adrenalin durch das Gassenlabyrinth. Wer das dichte Aroma jetzt wieder ein wenig stärker auskosten will, der trabt am besten durchs benachbarte, berüchtigte Camorra-Viertel Forcella und wirft in der grün-weiß gekachelten L'antica Pizzeria Da Michele eine jener Pizzen ein, die seit Patrone-Gedenken in lediglich zwei Ausführungen auf die Marmortischchen geschlenzt werden: als Margherita oder Marinara.

Aber Vorsicht. Der Teufel schläft nicht - und am allerwenigsten in Forcella. Also sollte man im Zweifelsfall auf eine weitere Bestellung verzichten, auch auf die verlockenden Profiteroles-Kügelchen, die sich wohlfeil an allen Ecken der lebhaften Gassen anbieten. Neapel schlägt in Summe nämlich an, und das kann in den nächsten Stunden durchaus eine Rolle spielen. Denn die ganz hartnäckigen Zweifler werden versuchen, der Müllkrise unterirdisch zu entkommen. Aber Dickleibige kommen in der neapolitanischen Unterwelt nicht weiter. Ausgenommen vielleicht als Pate.

Höhepunkte in der Tiefe

Wer die Via dei Tribunali jetzt bis zur kleinen Piazza San Gaetano weiterschlurft und im Haus Nummer 68 durch das Tor tritt, den erwartet eine der ungewöhnlichsten Stadtbesichtigung Italiens: der Streifzug durchs unterirdische Neapel. Ein Höhepunkt der Tour ist genau betrachtet ein vierzig Meter unter dem Straßenniveau gelegener - und damit auch ein Tiefpunkt: die römische Zisterne. Ein Ort, an dem man Indiana Jones vermuten würde, aber niemals Touristen. Fast türkisgrün leuchtet das Wasser im tief abgesenkten Wasserschacht, und die Kerzen in den Händen der Besucher lassen flackernde Schatten über grob behauene Wände huschen. Feucht ist die Luft hier immer. Aber jetzt, im Hochsommer, mit 13 Grad immer noch angenehm kühl. Von den vielen filmreifen Locations, die einem Neapel über Tage beschert, ist der türkisgrüne Pool der Antike die vielleicht unheimlichste.

"Die Stadt unter der Stadt gleicht einem Negativbild des bekannten Neapels", schrieb der neapolitanische Schriftsteller Luciano De Crescenzo darüber. Und in der Tat: Vieles von dem, das oben gebaut wurde - um nicht zu sagen: das meiste -, stammt aus Neapels Unterboden. Der besteht praktischerweise aus vulkanischem Tuff, ein Material, das sich so einfach schneiden lässt wie Parmesan. Klar, dass die schönen, alten Häuser Neapels nicht als Eins-zu-eins-Aussparungen unter dem Straßenpflaster wieder auftauchen. Aber ein weitverzweigtes Geflecht mit Plätzen, Straßen und Kavernen hat sich im Laufe der Jahrtausende allemal entwickelt. Um lediglich zwei, drei miteinander verbundene Bau- und Materialgruben handelt es sich beim unterirdischen Neapel nämlich keineswegs. Experten schätzen das auf mehreren Ebenen verlaufende Netz an Stollen und Kammern auf eine Fläche von zwei Millionen Quadratmetern. Gut erforscht und vom Bauschutt nachfolgender Generationen befreit ist bislang gerade ein Drittel dieses unterirdischen Labyrinths.

Graffiti unter San Lorenzo

Dass da noch einiges zum Vorschein kommen wird, ahnt man bereits, wenn man an der Piazza San Gaetano die ersten hundertzwanzig Stufen hinabsteigt. Ungewöhnlich sind die Perspektiven, die sich dabei auftun: Sie erlauben es etwa, die Kirche von San Lorenzo Maggiore vom Boden eines Brunnen aus zu betrachten. Sie lassen über verrostetes Kinderspielzeug und altgriechische Graffitis staunen - und über eine Reihe beleuchteter, künstlicher Pflanzen, mit denen der Designer Marco Zanuso das unterirdische Neapel einst in den verrücktesten Underground-Garten der Welt verwandeln wollte.

Doch vor allem die Schleichwege und Kavernen führen entlang der Wasserkanäle und Aquädukte tief in die Geschichte der Stadt. Der riesige griechische Steinbruch, der unter dem Friedhof von Santa Maria del Pianto entdeckt wurde, ist dabei kaum mehr als eine Randnotiz aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert. Denn schon zur Ära Augustus konstruierten die Römer weitere Aquädukte und imposante Verkehrstunnel, die während späterer Cholera-Epidemien zu Massengräbern mutierten. Davon zeugen die tausenden Schädel des unterirdischen Cimitero delle Fontanelle bis heute.

Immer wieder hatten die Tunnelsysteme auch Müll und Bauschutt zu schlucken - ein neapolitanisches Déjà-vu. Im Zweiten Weltkrieg wurden sie als Luftschutzkeller wichtig - und als Versteck für Deserteure. Seit jeher diente Neapels tuffsteinerne Unterwelt auch dazu, sich der Staatsmacht zu entziehen, eigene Wege in den Untergrund zu wählen. Dass man über die Brunnen in die Paläste der Mächtigen einsteigen konnte - allein das erweckt die reine Sozialromantik. Aber auch viele Opfer der Mafia wurden hier "vergessen", ebenso wie so mancher längst zugemauerte Stollen.

Genau das beschert Archäologen immer wieder Überraschungen - und verblüfft mitunter auch abgebrühte Mechaniker. Eine typische Basso, eine Erdgeschoßwohnung also, die sich im Laufe der Jahre zur Kfz-Garage verwandelt hatte, bewies das erst vor wenigen Jahren. Dass dahinter Neapels prächtigste Underground-Attraktion schlummerte, hätte sich der Vespa-Spengler kaum träumen lassen: Doch dann tauchten massive Arkaden auf - Teile jenes verschollenen griechisch-römischen Theaters, in dem einst Nero sein Debüt gab. (Robert Haidinger/DER STANDARD/Printausgabe/9./10.8.2008)