Noch rund insgesamt 3500 Schafe weiden im Ötztal und werden im Frühsommer auf die Almen getrieben. Vor 30 Jahren waren es noch doppelt so viele.

Fotos: aus dem besprochenen Buch

Foto: aus dem besprochenen Buch

In einigen Wochen machen sie sich wieder auf den Weg: von ihren würzigen sommerlichen Nahrungsquellen zurück zu den kargen Winterkrippen. Tausende von Schafen über Saumwege, Geröllhalden, Schneefelder und Gletschereis, ein gewaltiges Schauspiel und eine Lärmsymphonie, in der sich die "Höörla, höörla"-Rufe der Treiber und das Bellen der Hunde mit dem Glockengebimmel und dem vielstimmigen Blöken der Tiere vermischen: Mutterschafe, die ihre Jungen locken, Lämmer, oft erst wenige Wochen, ja Tage alt, die hinter ihren Säugerinnen her sind und immer wieder von den Hirten getragen werden müssen.

Kein Wunder, dass der jährliche Schaftrieb über den Hauptkamm der Ötztaler Alpen ein touristisches Großereignis geworden ist, begleitet von Scharen fotografierender Bergwanderer, beworben von Fremdenverkehrsgemeinden und Hoteliers. Dabei tun die genügsamen Nutztiere nichts anderes, als das, was sie seit Jahrtausenden ohne dokumentierende TV-Kameras und erklärende Volkskundler auch getan haben: Sie, bzw. ihre Besitzer folgen den Futterquellen; im Frühsommer zu den Almweiden, im Herbst zurück ins Tal. "Transhumanz" (von lateinisch "trans"=hinüber und "humus"=Boden, Gegend) nennt man diese halbnomadische Landwirtschaftsform, die von Afrika bis Skandinavien bekannt ist und auch in der alpenländischen Almwirtschaft gepflegt wird.

Als Anfänge der Schaftriebe über die Ötztaler Alpen halten Alpinarchäologen die Zeit um etwa 4000 vor Christus für möglich. Vermutlich damals wurde das hinterste Tal, nicht wie man denken möchte, vom Inntal her, sondern aus dem Süden, über den Alpenhauptkamm besiedelt - immerhin ein halbes Jahrtausend, bevor "Ötzi" bei seinem Marsch über den Similaunferner zu Tode kam.

Erste schriftliche Zeugnisse über den Viehtrieb gibt es, wie der Ötztaler Volkskundler Hans Haid in einem dieser Tage erschienenen opulent illustrierten Buch über die "Wege der Schafe" dokumentiert, seit dem späten Mittelalter. 1357 wurden Weiderechte der Südtiroler Bauern aus dem Schnalstal auf dem Rofenberg bei Vent bestätigt. 1415 gelobten die Bauern von Schnals im Vintschgau und Vent, dass sie "wechselseitig gute freunde seyn, forthin unter ihnen keine zänkereyen und unstimmigkeiten mehr stattfinden." Das betraf auch ein 1434 vereinbartes "Schneefluchtrecht", das besagte, dass, falls es in den hochgelegenen Weidelagen schneit, die Schnalser ihre Schafe auf die Felder der Venter Bauern treiben dürfen. Das letzte Mal geschah dies vor 21 Jahren, und die Südtiroler vermerkten ausdrücklich, wie gastfreundlich ihnen die Venter in diesem Schneesommer 1987 begegneten.

Auch die Abtrennung Südtirols von Österreich nach dem Ersten Weltkrieg hatte an den Verträgen nichts geändert. Die jährlich zweimalige Überschreitung der Staatsgrenze zwischen Italien und Österreich wurde von Grenzgendarmen und Veterinärmedizinern beider Länder kontrolliert. Diese Prozedur endete erst mit dem Beitritt Österreichs zur EU.

Wie ökonomisch ist die Schafwirtschaft überhaupt noch in Gegenden, die vom Fremdenverkehr dominiert werden, wo die Tiere dann auf ihrer Wanderung gelegentlich staunend den Pistengeräten der Gletscherskigebiete gegenüberstehen? Da viele der Südtiroler Schafe in Ställen gehalten werden, sind sie den Strapazen des frühsommerlichen Triebs gar nicht mehr immer gewachsen und werden so in Lastwagen über die Timmelsjochstraße nach Gurgl gebracht. Erst im Herbst schaffen sie, gekräftigt durch das Weideleben, den Rückmarsch aus eigener Kraft.

Immer wieder gefährden auch plötzliche Wetterstürze die Schaftriebe wie im Juni 1979, als 3000 Tiere in einen Schneesturm gerieten. Die schwächsten wurden mit einem Netz durch Hubschrauber geborgen, trotzdem verendeten mehr als hundert. Keine Bestätigung fand Hans Haid für Erzählungen, dass bei einem Schneesturm Mutterschafe und Jungtiere in die Schlafkammern und Matratzenlager der Similaunhütte getrieben und so gerettet wurden.

Insgesamt weiden heute noch 3500 Schnalstaler, Vintschgauer und Passeirer Schafe im Ötztal - vor dreißig Jahren waren es noch doppelt so viele. Für die Südtiroler Bauern ist das wirtschaftlich durchaus interessant. Sie erhalten EU-Förderung für die Aufrechterhaltung der Almkultur und die Züchtung gefährdeter Rassen wie des braunen Tiroler Bergschafes. 1938 hatten übrigens die Nazis die bevorzugte Züchtung des weißen Bergschafes angeordnet, die in zahlreichen, zum Teil heute noch bestehenden Zuchtvereinen befolgt wurde.

Während die Wollgewinnung in der heutigen Schafzucht kaum mehr eine Rolle spielt, melden die Südtiroler Bauern hervorragende Absatzbedingungen für Lammfleisch - ganz im Gegensatz zu Nordtirol. Obwohl das Salzburger "Tauernlamm" und das "Villgrater Frischlamm" aus Osttirol weithin begehrte Produkte sind - die tüchtigen Osttiroler haben sogar eine Verwendung für die Wolle als Dämmstoff in der Bauindustrie gefunden -, zählt auf den Speisekarten der Innerötztaler Spitzengastronomie, wie Hans Haid enttäuscht feststellen musste, Lamm nicht zu den bevorzugten Produkten - und wenn, dann stammt es häufig aus Neuseeland.

Die zweite Augusthälfte steht bevor, das bedeutet, dass die jetzt im Sommer auf den Ötztaler Bergweiden geborenen Lämmer bald den beschwerlichen Weg in den Süden antreten werden. (Horst Christoph/DER STANDARD/Rondo/14.8.2008)