Foto: DuMont

Lyrik findet nach wie vor wenig Publikum, die lyrische Produktion jedoch kennt eine immense Dichte, enorme Vitalität und Bandbreite, von den Großen wie Mayröcker, Schlag, Draesner, Grünbein bis zu den nunmehr renommierten Jüngeren wie Nora Gomringer, Monika Rinck, Lutz Seiler. Oder Raphael Urweider. Der 1974 geborene Berner hat 2000 in seinem Debütband Lichter in Menlo Park mit genau gesetzten und bildbezaubernden Gedichten einen überraschenden Variantenreichtum geboten, dann 2003 mit dem Band Das Gegenteil von Fleisch seine künstlerische Reife bestätigt.

"Gedichte von der Liebe und der Liederlichkeit" versammelt er nun in seinem neuen Buch All deine Namen. Es besteht aus drei Teilen: "acht jahreszeiten", "ein reigen" nach dem Alphabet, jeweils eine poetisch angesprochene Frau, von A wie Antonia bis Z wie Zoe. So weit die Liebe, es folgt die Liederlichkeit mit zehn "selbstversuchen" über harte Getränke. Und all das hält Urweider eben mit seiner originellen Liederlichkeit, hier im Sinne von Klangwerk, zusammen.

Die Freude am Dichten, die das Motto antippt, klingt von Anfang an durch, ein leichtes Gleiten von "vorfrühling" zu "vollfrühling", beides lautlich geprägt: "teilweise schnee noch / verwehte helle zettel /ein eingezwängter bach / bringt wasser mit sich / und licht wie ein weh ein ach". In dieser ersten Strophe des Bandes trägt eine Tonreihe (sechsmal w, fünfmal ch) die knappen Bilder, im Vollfrühling sind es dann k und l, b und n: "in den kuppeln der kathedralen / bauen sich die engel ihre nester / aus ihren eiern klingt musik / so leben die ungeborenen".

In derart ausgewogener Weise schafft Urweider metaphorische Verdichtungen im uneigentlichen Sprechen, dem er rhythmisch wie thematisch wirksame Wiederholungen in leichter Abwandlung zukommen lässt. Das achte Jahreszeitenpoem "mittwinter", das mit "ich bin noch nicht alt" als Konter üblicher Wintersymbolik beginnt, schließt mit dem Vers "alt bin ich noch nicht".

Und auch der letzte Text der Spielanordnung des mittleren Zyklus erhält seine Eigenart von einer Redundanz, die am Ende des Frauen-Buchstaben-Reigens zum Ostinato anschwillt: "zoe du hast einen ohrring verloren / ich streichle das gras wie ein schlafendes tier / zoe du hast einen ohrring verloren / ich kämme das gras wie du dir dein haar", variantenreich weitergeführt bis "zoe du bückst dich und hilfst mir beim suchen / ich finde den ohrring in deinem haar".

Esprit und Elixiere

Urweiders Esprit ruft Assoziationen auf - "beatrice (...) / liebe dich aus der erinnerung als hohen ton" oder im Gedicht an eine unbekleidete Helena morgens um vier -, führt Anlaute aus: "fraglos franziska gehören wir dir / wir lippen die deinen wir arme". Teils elementar, in Sonnen- und Mondstrahlen, teils sachlich gewitzt wie jene Strophe, die mich in ihrer praktischen Nüchternheit entzückt: "magdalena du weißt zwar die / waschmaschine nicht zu bedienen / doch weißt du was sache ist ich / zum beispiel bin sache für dich".

Auf Nüchternheit ist der dritte Zyklus nicht aus. Die kompakten Gedichte über Alkoholika, von "vodka" und "whisky" bis "grappa" und "anis", sind jene des Bandes, die am stärksten eine Verbindung und einen Übergang, ja bisweilen ein scheinbares Durcheinander verschiedener Ebenen vorbringen und damit Interpretationen herausfordern: "obstler demutstropfen kerngeschäft im / kellerhals als dunkelkammer chemikalie" oder "cognac dachsparrenfahles couchgesöff in der / lichtgespaltenen attika kastaniensüße sonne" (lauten die jeweils ersten beiden Verse).

Mit Alle deine Namen legt Urweider ein Werk vor, mit dem er sich zwar mitunter ein wenig zu einfach gespielt und das er quantitativ dünn gehalten haben mag. Die präzise gearbeitete, zugleich lustvolle und eindringliche Poesie zeugt jedoch von Originalität, Gewitztheit und Könnerschaft. Auch einem Publikum, das nicht nach Lyrik süchtig ist, seien von Zeit zu Zeit Urweiders Elixiere empfohlen.
(Klaus Zeyringer / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16./17.8.2008)