Diogenes

"L'homme nu", der "nackte Mensch", war es, dem das Interesse von Georges Simenon zeitlebens galt. In Maigret und der Weinhändler aus dem Jahr 1970 legt der belgische Romancier posthum das Innenleben und die verborgenen charakterlichen Antriebe des reichen französischen Weinhändlers Oscar Chabut bloß, der nach einem geheimen Liebestreffen mit seiner Sekretärin auf offener Straße von einem (oder einer) Unbekannten niedergeschossen und getötet wird.

Nach und nach enthüllt sich im Spiegel der Aussagen von Verwandten, Freunden und Bekannten Chabuts das Bild eines Emporkömmlings, skrupellosen Geschäftsmannes und machtbesessenen Erotomanen, der seine Ermordung, wenn schon nicht "verschuldet", so doch in letzter Hinsicht in einem fatalen Verursachungszusammenhang selbst herbeigeführt hat. Chabut ist zwar ein fiktiver Charakter, aber Simenon versteht es mit seinem unvergleichlichen schriftstellerischen Geschick, den Eindruck zu erwecken, als habe man es mit einem lebendigen Menschen zu tun. Kommissar Jules Maigret entschlüsselt den Mordfall Chabut in gewohnter Weise: gleichmütig, zugleich aber voll Mitgefühl und immer im Kampf gegen einen heraufziehenden Schnupfen.

Der Dramaturg, Schauspieler, Autor und Journalist Gert Heidenreich liest den Roman mit wohltönend sonorer Stimme und einem gelegentlichen Anflug von dezenter Ironie. Ein schönes Hörbuch zur Einstimmung auf den nahenden Herbst. (Christoph Winder / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16./17.8.2008)