Bild nicht mehr verfügbar.

Anais Nin
(1903 - 1977)
Archiv

Paris - Die Zimmer waren dunkelrot, türkis- oder aprikosenfarben tapeziert und strömten eine beunruhigende Atmosphäre aus - so wie die Dame des Hauses. In diesem Bürgerhaus in Louveciennes, einem Pariser Vorort, in dem Anais Nin von 1929 bis 1935 lebte, empfing die französische Schriftstellerin ihren Liebhaber, den amerikanischen Erzähler Henry Miller. Eine Steinplatte neben dem Eingangstor erinnert an diese Zeit, die ausschlaggebend für ihr Leben wurde. In diesen Jahren schrieb Anais Nin, die am Freitag (21. Februar) 100. Jahre alt geworden wäre, unzählige Seiten über ihre erotische Beziehung zu dem Autor und über ihre Suche nach ihrer weiblichen Identität.

Tagebuch mit 150 Bänden

Aus dieser Zeit stammen auch die Aufzeichnungen "Henry, June und ich. Intimes Tagebuch", die aus Rücksicht auf noch lebende Personen erst Jahre später erschienen, und das Buch "Feuer. Die unzensierten Pariser Tagebücher". Die 1903 bei Paris geborene Schriftstellerin hinterließ ein gigantisches Tagebuchwerk aus 150 Bänden, das das Leben einer lebenshungrigen jungen Frau in Paris und New York dokumentiert und von dem bis heute nur ein Bruchteil veröffentlicht worden ist. Der in deutscher Übersetzung erschienene Auswahlband "Die Tagebücher der Anais Nin" umfasst vor allem Auszüge aus den 30er Jahren.

Schreiben als Therapie

"Das Tagebuch ist mein Haschisch, meine Opiumpfeife. Es ist für mich Droge und Laster", notierte die Tochter eines spanischen Musikers einmal. Ihr Drang zum Schreiben war schon fast krankhaft. Sie sah in ihrem besessenen Notieren eine Art Therapie und wollte angeblich für ihren Vater, der sie und ihre Mutter wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte, ihren Lebenslauf aufschreiben. Anais Nin begann schon als elfjähriges Mädchen mit ihren Aufzeichnungen, die sie 1920 in englischer Sprache fortführte.

Die Enthüllungen ihrer sexuellen Fantasien, ihre teilweise sehr deutlichen Bekenntnisse und erotischen Träumereien machen die Autorin nach Ansicht mancher Kritiker zu einer "halbherzigen Pornografin". Andere wiederum sehen in ihrem Schreiben den Kampf und die Suche eines verwirrten bürgerlichen Gewissens. "Sie schreibt das, um sich selber zu provozieren, um durch die Sprache ihre neurotischen Ängste zu überwinden, wozu auch der ostentative Gebrauch des Wortes 'ficken' gehört", heißt es etwa in einer Besprechung. Die Autorin habe sich zwischen ihrem bürgerlichen Ehemann und dem scheinbar unbürgerlichen und "sexuell exzessiven" Liebhaber Miller nicht recht entscheiden können.

Doppelleben

Anais Nin führte bis zu ihrem Tod - sie starb am 14. Januar 1977 in Los Angeles an Krebs - ein Doppelleben als Ehefrau, Geliebte und Künstlerin, was zwei Mal zu psychischen Zusammenbrüchen führte. Die ungestillte Sehnsucht nach der Liebe ihres Vaters und ein unbändiger Drang nach Anerkennung sind nach Ansicht von Kennern ihres Werks der Grund ihres grenzenlosen Lebenshungers und erotischen Bekenntnisdranges. Mit ihren Liebesabenteuern kokettierte sie auch gern öffentlich und hielt sich allen Ernstes für die "größte Liebhaberin der Welt".

Schriftstellerisches Genie

Henry Miller hingegen sah in der extravaganten Frau zeit seines Lebens eine außergewöhnliche Person. "Von allen Frauen, die ich im Laufe meines Lebens kennen gelernt habe, gibt es nur wenige, die sich mit der Schönheit Anais und ihrer weiblichen Huld vergleichen konnten", äußerte er einmal, "sie war eine Charmeuse und eine Aristokratin... und eine völlig zurückhaltende Person. Aber sie war auch eine Schriftstellerin, deren Genie man nicht leugnen konnte. Und all diese Gründe machen, dass sie heute der ganzen Welt gehört". (APA/dpa)