Ich seh etwas, was ich nicht seh. Neue Militärtechnologien können aus dem Gehirn Sinneseindrücke ablesen, die der bewussten Wahrnehmung verborgen bleiben.

Foto: STANDARD/Corn

Ein Experte für optische Bildauswertung sitzt vor einem Computer in einem Labor des Technologiekonzerns Honeywell Aerospace in Phoenix, Arizona. Konzentriert blickt er auf blitzschnell vorbeihuschende Fotos. Schemenhaft erkennt man Wolken, Berge, Flüsse, Felder, Städte aus der Vogelperspektive, doch mehr Details sind auf den Aufnahmen eines Spionagesatelliten kaum erfassbar. An die zehn Bilder flimmern pro Sekunde vorbei.

Der Experte sucht nach auffälligen Flugobjekten. Nach 30 Minuten bricht er ergebnislos und angestrengt ab. Trotzdem hat er gefunden, wonach er gefahndet hat. Denn ein Elektroenzephalogramm (EEG) hat mittels Elektroden auf seiner Kopfhaut die Gehirnströme aufgezeichnet. Da es Veränderungen im Millisekundenbereich misst, entging ihm ein auffälliges Signalmuster nicht, als Bild 32 kurz aufleuchtete.

Aus diesen Daten errechneten ausgeklügelte Algorithmen, dass auf dem Foto vermutlich ein Flugzeug zu sehen war. In der Tat - Volltreffer. Das Gehirn hat den Flieger registriert, ohne dass sich die Versuchsperson dessen bewusst war. Selbst für den geübten Analysten flirrten zu viele optische Informationen über den Bildschirm.

Datenflut als Feind

Das US-Militär ist besorgt, dass es einem neuen Feind zu unterliegen droht - der Datenflut. Satelliten, Drohnen und Aufklärungsflugzeuge produzieren heute längst mehr Informationen, als das Geheimdienstpersonal effektiv auswerten kann. Um dieser Herausforderung Herr zu werden, hat Darpa, der gewagte Projekte fördernde Forschungsarm des Pentagons, Honeywell Aerospace beauftragt, neue Bildanalysetechniken zu entwickeln.

Die rein computergesteuerte Bilderkennung kann da wenig helfen, denn sie steckt immer noch in den Kinderschuhen. "Aber eine Kombination aus Mensch und EEG" , erläutert Bob Smith, Vizepräsident für neue Technologien bei Honeywell Aerospace, "kann den Prozess durchaus beschleunigen - von einer Stunde auf nicht einmal zehn Minuten."

Mit der Informationsflut kämpfen notorisch überlastete Büroangestellte ebenso wie am Handy telefonierende Autofahrer, Fluglotsen oder Internetsurfer. Doch die Dringlichkeit, das Datendickicht rasch zu durchschauen, spürt kaum jemand so stark wie das in unpopuläre Kriege verstrickte US-Militär. Das betrifft längst nicht nur Fotostudien. Es geht um Feuergefechte in Afghanistan, Einsätze von Kampfjets, Straßenpatrouillen im Irak oder die Fernsteuerung von Drohnen über Feindesland.

Deshalb investiert das US-Verteidigungsministerium seit einigen Jahren Millionen Forschungsdollars, um mit technischer Hilfestellung die geistige Aufnahmefähigkeit seiner Soldaten zu verbessern, ihre Sinne zu schärfen und die Reaktionszeiten zu verkürzen. Moderne Hilfsmittel wie GPS, Funk, Datenschirm und Übersetzungscomputer machen die eh schon komplexe Situation im Feld mitunter noch unübersichtlicher.

"Kognitive Überforderung, Müdigkeit und Entscheidungen unter Stress können da rasch zu kritischen Faktoren einer Mission werden" , sagt die Hirnforscherin Amy Kruse, die bei Darpa die unter dem Namen "Augmented Cognition" - erweiterte Wahrnehmung - bekanntgewordenen Forschungsprogramme leitet.

Zum Zukunftsprogramm kognitiver Leistungssteigerung gehören Ferngläser, die mit einer Sichtweite von bis zu zehn Kilometern inklusive 120-Grad-Sicht ausgestattet sind. Das Superauge nennt sich salopp "Lukes Fernglas" nach dem Feldstecher, durch den Luke Skywalker in "Krieg der Sterne" linst. Doch die phänomenale Fernsicht ist nicht sein herausragendes Merkmal. Es sind auch hier die in einen Helm integrierten Elektroden eines EEGs, die an den Mustern der Gehirnströme rechtzeitig Gefahren erkennen sollen.

Hirnregion als Zensor

Die Ursache dafür, dass wir manches nur verzögert oder gar nicht wahrnehmen, liegt wahrscheinlich im präfrontalen Kortex, der Kommandozentrale für höhere kognitive Funktionen. Forscher vermuten, dass diese Hirnregion als Zensor agiert und vieles unterdrückt, was durchaus unsere Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Elektroden jedoch umgehen das geschickt. Ob es funktioniert, wird sich zeigen: In zwei Jahren will der von Darpa beauftragte Rüstungskonzern Northrop Grumman die ersten Prototypen vorstellen.

Das Gehirn verwandelt sich so zum Seismografen, dem mehr vertraut wird als der Selbsteinschätzung des Menschen. Da verwundert es wenig, dass Darpa dasselbe Prinzip für Kampfpiloten im "kognitiven" Cockpit anwenden will. Das System überwacht nicht nur die Handgriffe und Entscheidungen des Piloten, sondern mit EEGs auch seine Hirntätigkeit.

Attackiert der Pilot ein Ziel, während Flugzeugsensoren gleichzeitig einen Angriff einer Boden-Luft-Rakete erfassen, prüft das "CogPit" genannte System, wann und wie es den Piloten auf die Gefahr hinweisen soll. Sollte die Zeit dabei zu knapp sein, kann dieses Kontrollsystem eigenständig Gegenmaßnahmen ergreifen, beispielsweise zur Verwirrung der Wärmesensoren Leuchtfackeln abwerfen.

Ähnlich hilft die Hirnüberwachung einem GI womöglich eines Tages in Kampfsituationen. Da wäre es etwa unklug, ihn mit dem Sprechverkehr seines Funkgeräts abzulenken, während Kugeln rings um ihn herum einschlagen. Ein im Gefechtshelm integriertes EEG könnte einem Zugführer künftig verraten, ob ein Soldat seiner Truppe gerade spricht, marschiert, stark beansprucht ist oder nur eine Tageszeitung liest. Andere Sensoren messen Stressindikatoren wie Puls, Pupillenerweiterung und die elektrische Leitfähigkeit der Haut.

Freilich haben alle diese Bemühungen um verbesserte Hirnleistungen eine natürliche Grenze. Früher oder später gibt jeder Mensch einem Bedürfnis nach - dem Schlaf. Doch die Müdigkeit sucht Infanteristen oder Piloten mitunter zu ungünstigen Augenblicken heim. Daher verfolgt Darpa auch ein Forschungsprojekt, das in den Biorhythmus eingreift.

Hirnzellen anregen

An der Columbia University in New York nützt der Neuropsychologe Yaakov Stern dazu die transkranielle Magnetstimulation (TMS). Fließt der Strom durch den Spulendraht, baut sich ein schwaches Magnetfeld auf, das Hirnzellen anregt. Mit der Spule kann man die Neuronentätigkeit gezielt fördern - ein Mittel, das inzwischen bei Schizophrenie und Depression eingesetzt wird. Bei richtiger Einstellung stimuliert es aber auch jene Areale tief im Gehirn, die bei Übermüdung nur unzureichend arbeiten.

Droht ein Soldat nun beim Nachteinsatz einzudösen, rüttelt ihn die Spule wieder wach. Doch Stern warnt vor einer Vision ständig kämpfender Supersoldaten: "Diese Technik lässt sich in naher Zukunft sicher einsetzen, wenn man schläfrig ist. Doch abschaffen lässt sich der Schlaf nicht." (Hubertus Breuer/DER STANDARD, Printausgabe, 10.9.2008)