Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Es war gestern. Aber vermutlich hätte ich den Rettungsring schon viel früher sehen können. Schließlich habe ich hier gewohnt. Einmal gerade aus und dann rasch ums Eck. Aber obwohl D., der damals mein Nachbar war, immer gemeint hatte, ich hätte auf der Suche nach interessanten Rohdachböden permanent die Skyline gescannt, war mir der Rettungsreifen nie aufgefallen. Aber da, da bin ich sicher, war er.

Doch vielleicht habe ich ihn erst jetzt gesehen, weil man ein bisserl genauer schaut, wenn man zurückkommt. Und sich das Eck massiv verändert hat: die Gegend zwischen Wallenstein- und Gaußplatz ist schließlich so etwas wie die Soft-Version des Karmeliterviertels. Oder der Brunnenmarktzone. Oder der Gegend um den Margaretenplatz: Ein bisserl spürt man hier schon noch das urige, echte und authentische, ein bisserl ärmliche Meltingpot-Stadtaroma. Aber in Wirklichkeit sind die Alten, die Migranten und die Ureinwohner auf dem Rückzug - und die Generation Dachbodenausbau hat das Heft übernommen.

Taubenflugplatz

Das Kreisverkehr-UFO am Gaußplatz, das hier schon ein paar Jahre als Taubenflugplatz dient, war einst das erste Anzeichen für diesen Prozess. Und als man dann bei der Bäckerei immer öfter mitten in der Nacht Menschen traf, die gerade aus irgendeinem Club heim wankten, war es D., der als erster erkennte, dass hier etwas Ähnliches passierte, wie wir es - in einer Radikalversion - in Berlin erlebt hatten: Wir hatten „unser" Viertel, in dem wir unmittelbar nach dem Mauerfall am Prenzlauer Berg Wohnungen mit „ungeklärten Besitzverhältnissen" (nennen wir es mal so) bewohnt hatten, nicht wieder erkannt: Mauern hatten Verputz. Fenster saßen fest im Mauerwerk. Vor den Häusern parkten echte Autos. Es gab Straßenbeleuchtung. Und die paar „echten" Ossis, die damals noch hier gewohnt hatten, waren verschwunden. Oder assimiliert.

Egal. Am Gaußplatz jedenfalls hatten D. und ich nie genau nach oben geschaut. Und so den Rettungsreifen übersehen. Erst gestern, beim Vorbeifahren, fiel er mir auf: Ganz oben, an einem Dachgeländer, das zu wackelig aussah, um als moderner Rauchfangkehrersteg durchzugehen, hängt er. Genau in der Mitte. Und auch wenn das Ding in Wirklichkeit natürlich wohl kaum ein Schwimmbehelf ist, sah es auf den ersten, schnellen Blick danach aus.

Fluten

Das sah auch D., nachdem ich ihn - der immer noch hier wohnt - auf das Ding aufmerksam gemacht hatte, so. Wobei er sich später noch einmal meldete: Vielleicht, meinte er, sei das Ding ja doch ein echter Rettungsring. Schließlich hätten wir damals, als wir einmal einen dieser Dachböden angesehen hätten, ja selbst mit der Idee kokettiert, den Hof bis zu unseren - imaginierten - Terrassen zu fluten: die „Ureinwohner" in den unteren Stockwerken hätten uns beim Schwimmen von unten auf die Bäuche schauen können. Besser: Dürfen.

Damals, vor Jahren, sagte D., sei das ein Witz gewesen. Aber vieles von dem, was uns damals absurd oder komisch vorgekommen war, sei heute Normalität. Nur sage das keiner: Die, die das nicht so super fänden, wären nämlich längst verschwunden. Oder unter das lokale Wahrnehmbarkeits- und soziale Relevanzradar abgetaucht. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 11. September 2008)