Seit ihrem vielbeachteten Romanerstling Februarschatten (1984) gehört Elisabeth Reichart zweifellos zur ersten Riege der österreichischen Gegenwartsliteratur. Das heißt aber nicht, dass eine größere als die literarische Öffentlichkeit von ihr Kenntnis nehmen würde. Waren die frühen Texte Reicharts noch von einem bewussten sprachkünstlerisch-avantgardistischen Impetus geprägt, entwickelt sie bereits in der Erzählung Komm über den See (1988) ein Schreiben, das stärker konventionellen Vorstellungen von Romankunst gehorcht, und man bedauert angesichts ihrer jüngsten Texte, dass sie ihr avantgardistisches Rüstzeug fast gänzlich über Bord geworfen hat.

In ihrem neuen Roman Die unsichtbare Fotografin schickt die Autorin ihre Hauptfigur Alice, eine Fotografin, in die bedeutendsten Städte unseres globalen Dorfes: Shanghai, Tokio, New York, Chicago, Wien, London (Heathrow), Mexiko City, Mailand. Reichart, 1953 in Steyregg geboren, ist nach mehrjährigen Aufenthalten in den USA und Japan selbst eine globale Seele. Sie weiß von der Mühsal des Lebens in Hotels und von der Beschränktheit des Reisens "mit leichtem Gepäck".

Im Zentrum des Romans steht allerdings eine Reise in die Provinz, nach Ohio, wo eine Freundin von Alice wohnt, ein Alter Ego, eine verkleinbürgerlichte Gegenfigur zur herumjettenden, weltgewandten Fotografin. Lilly, einst erfolgreiche Physikerin mit österreichischem Hintergrund, lebt nun in den Niederungen des American Way of Life: mit Dauerfernsehen, Chips und Cola. Nach mehreren Fehlgeburten fühlt sie sich ihres Lebenssinns beraubt und versinkt in Depressionen.

Dem steht die tough wirkende Alice nur fragend gegenüber. Ihr Lebensentwurf schließt Kinder aus und wieso Lilly sich von ihrer Kinderlosigkeit die Karriere, ja das Leben ruinieren lässt, geht ihr nicht ein. In zwei anderen Figuren spiegelt sich Alice. In den beiden Fotografen Thomas und James. Der eine, ein Liebhaber des Details und der Fragmentierung, der andere ein engagierter Dokumentarist der Kriegsschauplätze unserer Welt.
Während Alice daran glaubt, dass die Welt durch Schönheit gerettet werden kann und sich bei ihrer fotografischen Arbeit vor allem auf Menschen und Landschaften konzentriert, ermutigt sie James zu stärkerem künstlerischem Engagement und zu einer Politisierung ihrer Arbeit. Als Alice mit Fotos in Verbindung gebracht wird, auf denen Gefangene gezeigt werden, die unter dem Gelächter amerikanischer und chinesischer Soldaten Hunde essen, leugnet sie ihre Autorschaft. Doch die Fotos tragen ihre Handschrift.

Angeregt durch diese Geschichte, hinter der ein Verrat steht, beginnt sich allmählich ihre Einstellung zu ihrer Arbeit zu wandeln. Den Fluchtpunkt des Romans bildet eine geplante Reise nach Ruanda, wo sie Frauen fotografieren will, die nach dem Genozid das Überleben und die Verwaltung des Landes sichern. Dem Roman ist nicht nur eine Diskussion über die Ästhetik und Ethik der Fotografie eingeschrieben, sondern anhand einer weiteren Gegenfigur zu Alice, ihrem Bruder Bob, der Schriftsteller ist, auch eine über literaturästhetische Fragen. In einer dieser Diskussionen meint Bob, dass nur noch die "Amis" Romane schreiben könnten, allerdings nur Romane "von netten Mittelstandsfamilien und ihren netten Mittelstandsproblemen".

Wenn Bob am Ende des Romans beschließt, einen Roman über seine Schwester und ihre Reise von Shanghai bis Mailand zu schreiben und damit zum eigentlichen (fiktiven) Autor des vorliegenden Romans avanciert, macht er sich freilich nichts anderes als diese amerikanische Poetik zueigen. Dem Roman hätte etwas mehr künstlerischer Wagemut nicht geschadet. (Nicole Streitler, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 13./14.09.2008)