Party der Langeweiler? O nein! TV On The Radio haben es faustdick hinter den Ohren, ihr Album "Dear Science" ist ein Meisterwerk!

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Wien - In der zeitgenössischen Pop- und Rockmusik scheint fast alles schon einmal gedacht zu sein. Eine seit Jahren prosperierende Revivalkultur untermauert diese Vermutung: Um die Jahrtausendwende gab es das Rockrevival (The Strokes, White Stripes ...), schließlich wurde der Postpunk der 80er geplündert (die schottische Band Franz Ferdinand und ihre Trittbrettfahrer). Dann besann man sich wieder auf Tanzbarkeit der Rockmusik, was der Welt schließlich das LCD Soundsystem des New Yorkers James Murphy bescherte, dessen erlauchter Eklektizismus sich ebenfalls beim Postpunk und bei der New Wave bedient.

Immerhin gelangen Murphy damit einige der aufregendsten Momentaufnahmen der jüngsten Vergangenheit. Dennoch: Innovationsarbeit im Sinne einer radikalen Avantgarde war das keine.

Dieser Steilvorlage entsprechen noch am ehesten die New Yorker TV On The Radio. Zwar wurde auch diese Formation nach Auftauchen ihres begeisternden Debüts Desperate Youth, Blood Thirsty Babes (2004) mit richtigen Vergleichen aus der Vergangenheit beschrieben: Peter Gabriel schunkelt mit den Swans. Doch zumindest das Zusammendenken von Doo Wop und Industrial Noise erschien bahnbrechend. Und durchaus radikale Ansichten zum Zustand der US-Politik, der Medien und infolge des "Systems" wirken bei der Band mit dem wunderlichen Namen im Gegensatz zu den üblichen Weltverpopbesserern nicht nur wie ein medientauglicher Sodbrand, sie bestimmen einen Gutteil ihres Werks.

Auch ihr dritter Longplayer, das nächste Woche erscheinende Dear Science, gibt sich durchwegs kritisch, verbietet sich "Hope" auf "Change" am Vorabend einer weiteren US-Präsidentenwahl und verharrt stattdessen lieber in skeptischer Distanz.

Kritische Hipster

Nachdem Pop die große Politik ohnehin kaum zu beeinflussen vermag, tut die mittlerweile zum Quintett angewachsene Formation gut daran, sich nicht auf das Glatteis der (Wahl-)Spekulation zu wagen. Stattdessen wirkt man im Kleinen und beobachtet etwa kritisch bis missmutig Williamsburg. Jenes Dorf im Stadtteil Brooklyn, in dem die Band wohnt und dessen Image als Hipster-Metropole sie mitgeprägt hat. Gleichzeitig strickt man weiter an der eigenen Ästhetik.

Mit Erfolg: Dear Science darf man gefahrlos eine der besten Veröffentlichungen des laufenden Jahres nennen. Der Opener Halfway Home übernimmt noch die bekannte Anmutung der ersten Alben: Lärmwände, gegen die das Schlagzeug pocht, dazwischen der beseelte Gesang von Tunde Adebimpe. Doch schon mit dem zweiten Stück, Crying, nimmt die Band eine nicht vorhersehbare Abzweigung: TV On The Radio werden funky! Und zärtlich.

Der Name Prince taucht in aktuellen Interviews mit der Band also nicht zufällig auf. Wobei sich der Einfluss des kleinen Prinzen nicht plump aufdrängt, sondern in die Vielschichtigkeit der knackigen Songs verwoben wird. Immer wieder vermeint man auch David Bowie zu hören, der am Vorgänger Return To Cookie Mountain tatsächlich als Gastsänger vorbeigeschaut hatte. Etwa in Golden Age, das zärtliche Geiger zu den Maschinenrhythmen von David Sitek stellt und ansonsten ebenfalls mit seinem minimalistischen, fettarmen Funk überzeugt.

Sitek, der zuletzt das Debüt der Hollywood-Schönen Scarlett Johansson produziert hat und mit seiner Prägung im US-Hardcore der 80er-Jahre die harsche Ästhetik von TV On The Radio wesentlich verantwortet, erlebt man auf Dear Science in noch nicht gehörter Poppigkeit. Zwar waren derlei Anlagen schon im bisherigen Output der Band vernehm- und erkennbar. Doch nicht in derart zwingender Ausprägung. Selbst der sehr gute Vorgänger hatte seine Schwachstellen.

Nun können leichte Einbrüche den Charme anderer Stücke durchaus erhöhen. Dear Science lässt für derlei Interpretationen erst gar keinen Raum. Das Album mit elf Songs in der Länge von 50 Minuten beginnt fantastisch - und wird mit jedem Stück besser. Auf voller Distanz, und gerade auch gegen Ende des Werks: etwa mit Red Dress, einer weiteren Funknummer, die mit satten Bläsersätzen und virilen Gitarrenlicks beschleunigt wird. Oder mit Shout Me Out, das als anrührende Ballade beginnt, bevor der Band gegen Mitte des Songs die Gäule durchgehen. Pracht und Herrlichkeit!

Angesichts der Qualität von Dear Science nimmt es wunder, dass ausgerechnet David Sitek in der New York Times das oft prophezeite Ende des klassischen Albums nachbetet. Für ein Publikum, das sich nur noch mit einzelnen Songs aus dem Netz versorgt, mag das stimmen. Mit Dear Science präsentieren TV On The Radio allerdings das Gegenargument zu seiner Behauptung: Das beste Argument pro Album, das man seit langer Zeit gehört hat. (Karl Fluch, DER STANDARD/Printausgabe, 13.09.2008)