Der Wissenschafter im Interview: Astronom Gerry Gilmore bemängelt anlässlich seines Besuchs beim Internationalen Astronomiekongress JENAM an der Uni Wien das mangelhafte Talent vieler Wissenschafter beim Gespräch mit Laien. Er hatte damit offenbar kein Problem.

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STANDARD: Ihre Stellenbeschreibung in Cambridge lautet experimenteller Philosoph. Fühlen Sie sich als solcher?

Gilmore: Oh ja. Der Name stammt von Isaac Newton. Was wir heute Physik nennen, hieß vor 300 Jahren Naturphilosophie. Newton begriff, dass er ohne Beobachtungen und Experimente nichts erklären konnte. Darum schuf er einen Posten für einen Astronomen. In Ergänzung zur Naturphilosophie nannte er es experimentelle Philosophie.

STANDARD: Was hat Sie zur Astronomie geführt?

Gilmore: Der Zufall. In der Schule habe ich mich auf die Fächer konzentriert, die mir am leichtesten fielen, vor allem Latein. Mit 15 mussten wir zwischen dem sprachlich-künstlerischen und dem naturwissenschaftlichen Zweig wählen. Mein Klassenlehrer entschied, dass es für mich Wissenschaft war. Ich interessierte mich für Quantenmechanik, und die Uni bot mir eine Stelle an, aber Ende der Siebzigerjahre waren all die neuen Zustände der Materie noch nicht entdeckt und Quantenmechanik so langweilig, dass ich lieber Lastwagenfahrer wurde.

Nach einem Jahr rief die Fakultät an: Ich könne mein Leben doch nicht auf der Straße vertun. Sie hätten ein Observatorium, das mich interessieren würde. Ich solle meinen Werkzeugkasten mitbringen und es instandsetzen. Und das habe ich getan.

STANDARD: Die sprachlich-künstlerische Neigung haben Sie hinter sich gelassen?

Gilmore: Im Gegenteil. Ich lese mittelalterliche Literatur, auch Linguistik, Philosophie und Geschichte. Diese anderen Perspektiven haben einen sehr wünschenswerten Einfluss auf meinen Zugang zu Wissenschaft.

STANDARD: Gibt es etwas, was Sie schwer finden?

Gilmore: Biologie, komplexe Systeme wie das Hirn. Ich hätte nicht die geringste Idee, wie man da vorgehen muss. Quantenmechanik ist im Grunde einfach. Man muss einen bestimmten Formalismus beherrschen, der etwas abgehoben ist. Genau wie Kosmologie. Die Konzepte sind wirklich schwer und interessant, aber die tägliche Anwendung schaffe selbst ich.

STANDARD: Wollen Sie etwa behaupten, nicht besonders schlau zu sein?

Gilmore: Meine Kollegen sind viel besser als ich, wenn es an komplexe Berechnungen geht. Sie schreiben clevere Aufsätze, aber sie brauchen jemand wie mich, um das zu übersetzen. Erstaunlich wenige Wissenschaftler sind fähig, einem Laien zu erklären, was sie tun. Worin ich gut bin, ist auch, große Fragen zu stellen, von denen später alle sagen: Natürlich, die Frage war doch offensichtlich! Aber das macht mich nicht klug, sondern ist nur eine besondere Fähigkeit.

STANDARD: Welche großen Fragen stellen Sie?

Gilmore: Die Frage, was kann ich sehen, unterstellt, dass Licht ein magischer Weg ist, der zeigt, was wirklich da ist, und nicht nur eines unter mehreren Werkzeugen. Eine fundamentalere Frage lautet: Wie kann ich wiegen, was da draußen ist? Das ist es, was ich die meiste Zeit tue: Ich wiege dunkle Materie.

STANDARD: Wie gehen Sie vor?

Gilmore: Es ist sehr simpel. Stellen Sie sich vor, Sie balancieren auf einem Faden ein Gewicht, schleudern es in die Höhe und fangen es wieder auf. Was schnell fliegt, braucht mehr Kraft, um gehalten zu werden. Diese Kraft ist Ihre Hand. Was ist es im Himmel, dass Sterne, die sich ja sehr schnell bewegen zusammenhält? Wenn Sterne sehr eng beisammen sind und sich schnell bewegen, ist sehr viel Kraft nötig, und die einzige mögliche Kraft ist Gravitation.

Diese einfache Beobachtung genügt, um zu zeigen, dass dunkle Materie existiert. Gäbe es sie nicht, wären die Sterne viel weiter zerstreut und wir hätten einen dunkleren Nachthimmel. Um dunkle Materie zu wiegen, muss ich nur wissen, wie schnell sich die Sterne bewegen und wo sie sind. Was es braucht, um die Sterne zusammen zu halten, ist das totale Gewicht. Man zieht das Gewicht der Sterne ab, und der Rest ist dunkle Materie.

STANDARD: Gibt es dunkle Materie auch auf der Erde?

Gilmore: Sie bewegt sich wahrscheinlich gerade durch Ihren Kopf. Wir haben vor fünfzehn Jahren berechnet, wie viel sich auf der Erde befinden dürfte. Dunkle Materie ist sehr verteilt und in kleiner Menge vorhanden. Die Teilchenphysiker nutzen diese Formel nun, um sie aufzuspüren. In je kleinere Skalen sie vorstoßen, umso mehr Hinweise auf Eigenschaften von dunkle Materie-Partikel kriegen wir. Die Vorhersagen der Teilchenphysiker gehen in die gleiche Richtung wie die Beobachtungen, die wir Astronomen dabei sind zu machen. Der Large Hadron Collider wird neue Elementarteilchen finden und uns damit eine Einkaufsliste des Möglichen geben.

Um zu wissen, welche Teilchen in der Natur vorkommen, müssen wir in der Natur suchen. In der Astronomie kann man keine Experimente machen, sondern ist darauf angewiesen, was die Natur uns bietet, aber das ist eine reiche Ernte. Man kann es so sehen, dass die Teilchenphysik die Zutaten zur Verfügung stellt und die Astronomie den Kuchen. Aus beidem zusammen können wir auf das Rezept schließen, und das sind die Gesetze der Physik.

STANDARD: Wie kommt dunkle Energie ins Spiel?

Gilmore: Aus der Beobachtung, dass es da draußen etwas gibt, was nicht der Gravitation gehorcht. Dann stellt man fest, dass das meiste keine Materie ist, sondern aus etwas ganz anderem besteht, von dem wir nicht wissen, was es ist. Wir nennen es dunkle Energie. Die Bezeichnung ist ein PR-Trick, ein großartiger Einfall meines Kollegen Mike Turner, damit ihre Erforschung vom amerikanischen Department of Energy gefördert werden kann. Dunkle Energie ist eigentlich keine Energie sondern Druck.

STANDARD: Was bewirkt dunkle Energie?

Gilmore: Wenn dunkle Energie ist, was sie zu sein scheint, wird unser Universum in einer fernen Zukunft leer sein. Wir beobachten, dass sich das Universum beschleunigt, und wenn sich etwas ständig beschleunigt, erreicht es ziemlich bald Lichtgeschwindigkeit. Ist aber einmal die Lichtgeschwindigkeit überschritten hat, wird es unmöglich zu kommunizieren, und unser Universum beginnt zu schrumpfen, weil die Dinge ganz weit draußen hinter dem Horizont verschwinden. Der beobachtbare Teil ist nur ein extrem kleiner Bruchteil des Universums.

STANDARD: Im Moment hat man nicht den Eindruck, dass die Astronomie an ihre Grenzen stößt.

Gilmore: Im 19.Jahrhundert war Astronomie ziemlich langweilig, und wer klug war, machte Thermodynamik, so wie in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts die klügsten Köpfe in die Quantenmechanik gingen. Heute ist es die Astronomie, die wirklich Fortschritte macht. Mit dem LHC wollen die Teilchenphysiker in Wahrheit wieder zu uns aufschließen. Immer mehr Leute aus der klassischen Physik wechseln in die Astronomie. Es sind goldene Zeiten. Die Technologie entwickelt sich so rasant, dass immer mehr Entdeckungen in immer kürzerer Zeit möglich sind. Mit jedem neuen Instrument lernen wir etwas fundamental Neues.

STANDARD: Die Rate der Entdeckungen mag zunehmen, aber wachsen die Kosten der neuen Teleskope und Satelliten nicht noch schneller?

Gilmore: Die Soziologie unseres Fachs muss sich ändern. Einzelne Forscher können nicht mehr sagen, das und das will ich tun, sondern es wird laufen wie in der Teilchenphysik, wo die Fachgemeinde entscheidet. Bisher reden wir immer darüber, wie wir die europäische Astronomie so stärken können, dass sie mit der nordamerikanischen Astronomie auf Augenhöhe konkurrieren kann. Der Sache dient das nicht. Die Technologie ist so teuer, die Informationsmengen aus diesen Projekten sind so enorm geworden, dass wir unsere Vorstellung von Konkurrenz überdenken und die Astronomie global organisieren sollten. Gemeinsam werden wir uns die neuen Teleskope leisten können.

STANDARD: Wie viel Zeit verbringen Sie damit, Geld für Astroprojekte einzuwerben?

Gilmore: Einen Tag pro Woche mache ich Astropolitik. Diese Anschaffungen sind so teuer wie der Bau eines Krankenhauses und brauchen sehr viel Überzeugungsarbeit. Unvermeidlich sind alles Kompromisse. Viele Entscheidungen fallen nicht, wie wir Wissenschaftler sie getroffen hätten. Es gibt Bereiche, die schlechter organisiert und vernetzt sind und daher weniger Ressourcen erhalten, als sie verdienen. Die Ultraviolettastronomie wurde ins Regal verbannt, weil die Raumfahrtindustrie andere Sachen bauen will.

STANDARD: Wollen Sie auch einen überfinanzierten Bereich nennen?

Gilmore: Der wissenschaftliche Effekt pro eingesetztem Euro ist sicher erheblich geringer in der Sonnensystemforschung, aber Politiker interessiert nicht, was mit einem neuen Teleskop geplant ist, sondern sie wollen Jobs und Hitechindustrie.

STANDARD: Wie viele Jahre Forschung bleiben Ihnen noch?

Gilmore: Astronomie ist zu aufregend, um in Pension zu gehen. Ich kenne keinen Kollegen, der aufhören will - selbst wenn man uns nicht mehr bezahlt. Sie werden die Kratzspuren meiner Fingernägel auf meinem Schreibtisch sehen, wenn man mich hinausgezerrt hat. (Stefan Löffler/DER STANDARD, Printausgabe, 17.9.2008)