Wenn historische Faktizität in Unterhaltungskino umschlägt: die Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer 1977 in "Der Baader-Meinhof-Komplex".

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"Keinerlei neue Erkenntnisse": Der frühere deutsche Innenminister Gerhart Baum hat sich Der Baader-Meinhof-Komplex angesehen und ist mit einem nüchternen Urteil herausgekommen. Über den deutschen Terrorismus, über dessen Star-Protagonisten Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof, über ein Land, das sich 1977 angeblich für eine Weile am Rande des Ausnahmezustands befand, bekam der Politiker im Kino keine neuen Erkenntnisse. Plausibel - nach einem Film, der in 150Minuten vom Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967 bis zum Geiseltod des Arbeitnehmerpräsidenten Hanns Martin Schleyer 1977 all das heruntererzählt und mit Stars in Szene setzt, was über die RAF weitgehend bekannt und nur in den Details kontrovers ist.

Aber hat Gerhart Baum den Film mit seiner Aussage nicht am Ende doch missverstanden? Hätte er sich nicht wenigstens ein wenig gruseln sollen, wäre nicht zumindest ein Gran Empörung über die sinnlose Gewalt die richtige Reaktion auf dieses Großprojekt, das einer konservativ und träge gewordenen Berliner Republik noch einmal so richtig zeigt, wie gefährlich es in Deutschland einmal zuging? Nein, der Sinn des Politikers ist in vielerlei Hinsicht untrüglich. Der Baader-Meinhof-Komplex liefert weder neue Erkenntnisse noch das, was gemeinhin am Kino interessant ist: Spannung, Sex, Wahrheit, Streit.

 

 

Selbst die "Debatte", die rechtzeitig zum Filmstart für Aufmerksamkeit sorgen soll, wirkt ein wenig müde. Michael Buback, der Sohn des ermordeten Generalbundesanwalts Siegfried Buback, spricht dem Film den Wahrheitsgehalt vielleicht auch deswegen ab, weil er ihm vorab nicht gezeigt wurde. Jörg Schleyer hingegen, dem er gezeigt wurde, sah "eine gnadenlose, mitleidslose Mörderbande" und fand gerade das gut.

Die Missverständnisse sind gewollt. Bernd Eichinger (Produktion und Drehbuch), Uli Edel (Regie) und Stefan Aust (Verfasser des zugrundeliegenden Buchs) zielen mit den Mitteln des Unterhaltungskinos genau auf die Nahtstelle, an der historische Faktizität in Geschichte(n) umschlägt. Sie beziehen sich in ihrer Inszenierung vielfach auf Bilder, die es vorher schon gab und die vorher schon Klischee waren: Baader und Ensslin als Gangsterpärchen des Terrorismus, Holger Meins als neuer Jesus, Meinhof als Erfinderin der randlosen Intellektuellenbrille.

Diese Klischees werden in Der Baader-Meinhof-Komplex auf ein überlebensgroßes Format und dann in eine Dramaturgie loser Verknüpfung gebracht, in der Ursache und Wirkung, persönliche Motive und Irrtümer, gar Schuld unwesentlich sind. In dieser Struktur, in der alles nur Ereignis sein darf, können Räume der Reflexion keine Rolle mehr spielen. Terrorismus wird auf diese Weise wieder zum Schicksal, das Entscheidungsmoment kassiert der Film ein, weil er es für die Figuren einfach pauschal voraussetzt.

Reduktion statt Reflexion

Man muss dann schon genau hinsehen, um die historische Position zu erkennen, die Eichinger und Co selbst einnehmen. Sie rechnen nicht so sehr mit den Terroristen selbst ab (die sie vielmehr mit einem Starangebot idolisieren), sondern mit allen Versuchen, den deutschen Terrorismus als Phänomen und Symptom zu denken. Noch viele Jahre nach dem Deutschen Herbst 1977 wurde über die Politik der Stadtguerilla und die Entscheidungsspielräume zwischen gewaltloser und gewaltbereiter Systemveränderung differenziert nachgedacht (und dabei die Kritik an der RAF viel schärfer und grundsätzlicher formuliert, als es gegenwärtige Verächter von '68 wahrhaben wollen). Im Baader-Meinhof-Komplex hingegen gibt es nur auf triviale Charakterzeichnung reduzierte Figuren.

Baader (Moritz Bleibtreu) ist der Macho und Flegel, Ensslin (Johanna Wokalek) die Fanatikerin, deren "heilige Selbstverwirklichung" als protestantische Gesinnungsethikerin irgendwie schieflief; Meinhof (Martina Gedeck) ist die Neurotikerin. Schon die allererste Szene - ein FKK-Strand auf Sylt, dazu Janis Joplins "O Lord, won't you buy me a Mercedes Benz" - setzt alles ins Zeichen eines freizügigen Hedonismus. Von der Idee der großen Sause kommt der Film dann nicht mehr los.

Die Unterschlagung aller Diskurse ist umso auffälliger, als in der Figur des Bundeskriminalbeamten Horst Herold ein großer Kommentator aufgebaut wird. Da Bruno Ganz kürzlich für Eichinger in Der Untergang auch schon Adolf Hitler gespielt hat, kommt es stellenweise zu komischen Rückkopplungen. Da wie dort ging es um einen seltsamen Wahrheitsbegriff, dessen Kriterien von der Academy diktiert werden, die in den USA den Oscar vergibt. Der Politiker Baum aber hat mit seiner Aussage doch nicht recht. Der Baader-Meinhof-Komplex bringt viele neue Erkenntnisse über die politische Stimmung in einem Land, das sich nach dem alten Schema von Freund und Feind zurückzusehnen scheint. (Bert Rebhandl aus Berlin, DER STANDARD/Printausgabe, 19.09.2008)