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Am 8. Oktober 2008 wäre er „quasi“ 80 Jahre alt geworden. Die zehnteilige Werkschau der Standard-Edition würdigt Helmut Qualtinger.

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"Der schwere, zuzeiten fettleibige Mann war nicht nur ein Phänomen im Herstellen von Tonfällen, Sprachmelodien, Redecharakteristika bis in die letzten Nuancen jedweden Dialekts oder Akzents, sondern auch ein Virtuose der Körperhaltungen. Man muss die Fettleibigkeit betonen, um ermessen zu können, was einer können muss, der keine Probleme hatte, auch als Ballerino oder als Frau sofort glaubhaft zu sein. Er konnte Figuren in kleinen Szenen, in Mini-Auftritten Authentizität und Hintergrund geben, dass einem der Atem stehen blieb", beschreibt Werner Schneyder die darstellerischen Fähigkeiten Helmut Qualtingers.

Über die Qualität des Schauspielers Qualtinger wurde und wird viel diskutiert. "Zum Theater wie zum Film und daher auch zum Fernsehen, das ein Mixtum aus diesen beiden ist, gehört ja immer auch eine gewisse Hellsichtigkeit. Nicht nur das Bewährte konventionell einzusetzen, da kommt nichts dabei heraus. Eine gewisse Eigenart herauszubilden braucht eine gewisse Zeit." Dieses Diktum Michael Kehlmanns beschreibt auch Qualtingers Film- und Fernsehkarriere.

Lange bevor "comedy" oder "sitcom" neudeutsches Wortgut werden, repräsentiert das "Fernsehbrettl" den Humor auf dem Bildschirm. Das interessierte österreichische Publikum nimmt vor den Fernsehgeräten Platz, sieht "den Farkas" und "den Qualtinger". Letzteren bald auch in anderen Produktionen. Unter Regisseuren wie Erich Neuberg, Walter Davy und Michael Kehlmann erreicht das Fernsehspiel in den 1960er-Jahren mit szenisch einfachen, aber ausgefeilten, pointierten Inszenierungen eine erste Blütezeit. Kehlmann resümiert: "Dieses Genre war volksbildend und wirklich eine Art Volkstheater. Ein Millionenpublikum hat plötzlich gesehen, dass Kunst nicht langweilig sein muss." Was auf der Bühne untergehen kann, Gestus und Habitus, wird im TV wie unter ein Vergrößerungsglas gestellt; visuelle Akzentuierung der kleinen und kleinsten Dinge betont auch die Stärken Helmut Qualtingers. Im Fernsehspiel wird er eindrucksvoll gegen das Komikerstereotyp besetzt, etwa in Geschichten aus dem Wienerwald (1961), Biedermann und die Brandstifter (1963), Der Himbeerpflücker (1965) oder Die Hinrichtung (1966).

Betrachtet man die Theaterproduktionen, in denen Qualtinger zur selben Zeit mitwirkt, fällt auf, dass sie wesentlich unspektakulärer sind bzw. manche davon wie Der Herr Karl sich direkt vom Fernsehen herleiten. Helmut Qualtingers Karriere findet in den 1960er-Jahren größtenteils auf dem Fernsehschirm statt. Seine Haltung gegenüber dem Medium, dem er einiges an Popularität verdankt, bleibt jedoch kritisch: "Ein neuer Hitler käme dann auch nicht als belfernder Dämon zum Ziel. Eher [...] als bedächtiger Fernsehmoderator." Die 1970er- und 1980er-Jahre bescheren Qualtinger noch einige lohnende Aufgaben am Bildschirm, darunter 1974 die Thomas-Bernhard-Verfilmung Der Kulterer unter der Regie von Vojtìch Jasný. Eine Rezension lobt Qualtinger als einen "Schauspieler aus sich und in sich, wie ich ihn in 40 Jahren der Kritik fast nie gefunden habe".

2451 Gesichter

Der Film- und Fernsehschauspieler Helmut Qualtinger, das ist zu Beginn seiner Karriere vor allem ein Gesicht unbestimmbaren Alters. Es kann Jugendlichkeit ebenso wie Reife, Dümmlichkeit, Verschlagenheit oder Brutalität widerspiegeln. Qualtinger erreicht seinen authentischen Ausdruck primär durch Synchronisation von Stimmlage und den Ausdruck seiner Augen - der Rest fügt sich gleichsam amorph dazu. "Sein Gesicht?", fragt ein Journalist 1964. "Du liebe Zeit: Der Qualtinger hat doch kein Gesicht. Der hat zwanzig, dreißig, zweitausendvierhunderteinundfünfzig. Manchmal sieht er für nahezu drei Minuten aus wie der Qualtinger, aber dann ..."

Schon 1958 schrieb man: "Er spielt gar nicht. Er ist!" In einem der zahlreichen Nachrufe hieß es 1986: "Er schlüpft nicht in die Rolle des anderen, sondern imitiert den Betreffenden." Das wiederum entspricht Qualtingers eigener Definition: "Wenn ich eine Visitkarte hätte, würde ,Menschenimitator' draufstehen." Sein Hang zur Imitation entsprang keiner Sucht nach Identifikation, sondern viel mehr einer Lust nach Verwandlung: "Meinen besten Bekannten leugne ich ins Gesicht hinein, der zu sein, für den sie mich halten. Diese Rolle spiele ich mit letzter Konsequenz zu Ende. Denn ein anderer zu sein, als der, für den ich mich halte, lehne ich in den seltensten Fällen ab."

Menschenimitator - das kann sowohl auf Kabarettisten wie auf Schauspieler zutreffen. In Qualtingers Arbeiten meint es vor allem das Festmachen einer Rolle an individuellen Details. Ein Charakter manifestiert sich in Kleinigkeiten, deren Stereotypie oft mehr über den zu Porträtierenden verrät als dessen sprachliche Aussagen. Für deren Visualisierung eignen sich primär Film und Fernsehen. Seine Vorliebe für die in Einzelszenen perfekt getimt ausgespielte Pointe weicht zunehmend der Konzeption einer ganzheitlich empfundenen Figur. Die meisterhaft geschnittenen Schablonen der Brettl-Ära treten hinter mehrdimensionale Charaktere zurück. Viele davon sind in der dramaturgischen Struktur "nur" Nebenrollen, aber die Schule Neubergs und Kehlmanns lehrt, dass jede Rolle höchsten Aufwand erfordert und gerade das Kammerspielhafte einer Nebenrolle bleibende Erinnerung hinterlassen kann.

Während ihm das Fernsehen relativ früh interessante Rollen offeriert, dauerte es im Film fast ein Jahrzehnt. Als Der Herr Karl 1961 auf dem Bildschirm erscheint, hat sein Schöpfer bereits in über einem Dutzend Filme mitgewirkt. Seine Witwe Vera Borek berichtet, dass Qualtinger diese Kategorie als "Dicker-Helmut-Filme" klassifiziert hat. Dieses Klischee bedient er - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in den Jahren zwischen 1952 und 1960. Viele der Auftritte in den Filmen jener Jahre sind bloße Nischenfiguren, am prägnantesten ist Qualtingers Auftritt an der Seite von O. W. Fischer in Mit Himbeergeist geht alles besser (1960). Bei den übrigen spricht Qualtinger von den "üblichen Klamotten. Als Schauspieler verdient man immerhin sein Geld leicht beim Film, das Drehbuchschreiben aber habe ich rasch wieder aufgegeben. Da wird doch nichts daraus, wenn man sich etwas dabei denken will."

Qualtingers Aufgabe in den ersten Jahren seiner Filmkarriere entspricht dem Komikerstereotyp, wie man es aus deutschsprachigen Komödien gewohnt ist, er entledigt sich der Aufgabe in einer stilistischen Mischung aus Oliver Hardy und Jackie Gleason. Eines freilich kann man ihm auch in diesen Produktionen nicht absprechen: das Phänomen der Präsenz.

Seine Auftritte sind unübersehbar, seine komische Kraft selbst bei dürftiger Textlage zu Gestaltung fähig. Anfang der 1960er-Jahre beendet Qualtinger seine "Dicker Helmut"-Filmserie. Die Vorbesprechung zu Mann im Schatten stellt fest: "Der Kabarettist Helmut Qualtinger spielt seine erste Filmrolle." Im weiteren Verlauf seiner Karriere werden die Filmrollen seltener als zu Beginn, sind aber qualitativ hochstehend, wie etwa in Lumpazivagabundus (1965) oder Kurzer Prozess (1967). Maximilian Schell holt Qualtinger zweimal vor die Kamera, darunter für Der Richter und sein Henker (1978). Der Zynismus in Qualtingers Rollen und Texten erinnert an Peter Sloterdijks Konzept von der "Kritik der zynischen Vernunft". Zynismus reagiert gegen stagnativen Empirismus, kritisiert geistige und moralische Skandale, der Autor versteht ihn als (über)lebensnotwendiges Instrument. Der Zynismus der Lebenden, vor allem wenn er einer kritischen Vernunft entspringt, ist hierzulande selten eine erwünschte Form der Kritik.

Wachstum nach dem Tod

Mit einem toten Künstler ist die rot-weiß-rote Kulturnation dagegen schnell versöhnt: "In Österreich gibt es ein Wachstum nach dem Tod. Ein Wachstum hin zum Herzen der Kulturredakteure und der - wie könnte es auch anders sein - Politiker." Heute zeigt sich, dass nicht nur die in Film und Fernsehen festgehaltenen Qualtinger-Figuren ihren Schöpfer und/oder Porträtisten überlebt haben. Sätze, wie er sie wiedergab oder vorausahnte, prägen sich uns ins Bewusstsein ein. Etwa die Aussage eines Friedhofsgärtners 1986, knapp nach Qualtingers Tod.

Ein Bediensteter der Ehrengrab-Abteilung des Wiener Zentralfriedhofs antwortet auf die Frage, welche Gräber von den Besuchern besonders frequentiert werden: "Am beliebtesten [...] sind der Böhm, der Curd Jürgens, der Stolz, der Moser und natürlich der Qualtinger. Die letzten san immer die besten."Als das Filmarchiv Austria im Jahre 2003 Helmut Qualtinger die erste umfassende Retrospektive seiner Film- und Fernseharbeiten widmete, waren viele davon nach langer Zeit wieder einem Publikum zugänglich. Die in Kooperation mit dem Filmarchiv erstellte, zehn DVDs umfassende erste "Werk.Schau" im Rahmen der Standard-Edition "Der Österreichische Film" umfasst Bekanntes und Rares, lädt zu (Neu-)Entdeckungen ein. Sie erscheint anlässlich von Qualtingers 80. Geburtstag, darf jedoch weit darüber hinaus als kulturelle Notwendigkeit (buchstäblich) angesehen werden. (Günter Krenn*, SPEZIAL - DER STANDARD/Printausgabe, 19.09.2008)