Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: AP

1) Ein Buch ist ein E-Book ist ein Buch

Jetzt sind sie also da, die elektronischen Bücher. Der Online-Händler Amazon hat sein "Kindle" schon vor einem Jahr auf den Markt gebracht. Erst gab es das weiße Ding nur in den USA, und dass es dann gleich wieder ausverkauft war, erschien nur wie ein überschlauer Marketing-Gag. In diesem Herbst kommt "Kindle" nach Europa, zeitgleich mit ähnlichen kleinen Plastikkistchen mit Bildschirm zum Lesen, unter anderem von Sony sowie mit dem abseits der Weltkonzerne entwickelten iLiad. Aber auch zu Apples schickem iPhone gibt es Software, die das Telefon in ein elektronisches Lesegerät verwandelt. Weitere Geräte und Anwendungen werden folgen.

In der Fachpresse vergeht seit Jahresbeginn kein Tag, an dem nicht ein großer Verlagskonzern neue Vorhaben ankündigt, Neuerscheinungen auch zum Download anzubieten oder digitale Bücher zu Werbezwecken ins Web zu stellen oder spezielle Reihen für die neuen Lesegeräte zu entwickeln. Spätestens zur Frankfurter Buchmesse wird dann die Medienwelle erste Höhen erreichen. Schon zur Vorschau der Messe erzählte Frankfurts Direktor Jürgen Boos von einer schlaflosen Nacht beim Rückflug aus Indien. Sein Nachbar habe nämlich stundenlang in einem elektronischen Buch geschmökert, und das habe sehr gemütlich ausgesehen.

In der Financial Times berichtete Jan Dalley von ihrem digitalen Saulus-zu-Paulus-Erlebnis: "Ich hasse es, dies hinzuschreiben - aber Amazons ,Kindle‘ und der Sony Reader haben den Im-Schatten-Knotzen-und-Lesen-Test bestürzend gut bestanden." Ich kann mich der Überraschung nur anschließen: Die neuen Dinger liegen erstaunlich selbstverständlich in der Hand, und ehe man es sich versieht, laufen die Augen ohne große Mühe die Zeilen entlang.

Aber natürlich habe ich die letzte E-Book-Welle - jene von 2000 - noch allzu gut in Erinnerung. Die Partys damals, etwa bei "Rocket eBook" in San Francisco, waren wunderbar. Die mit Unmengen frischer Werbedollars von der Börse ausgestatteten Start-up-Firmen verteilten reihum T-Shirts von bester Qualität, die immer noch im Wäscheschrank liegen, ganz im Gegensatz zu den elektronischen Geräten, die nach nicht einmal einem Jahr wieder von der Bildfläche verschwunden waren.

Was diesmal neu ist, ist etwas ganz anderes: Unser Umgang mit Informationen und unsere Lesegewohnheiten haben sich seit 2000 grundlegend verändert. Die Tageszeitungen haben es als Erste bemerken müssen: Besonders junge Leser informieren sich zunehmend anders als ihre Eltern. Sie sind es gewohnt, Zeitungen und Blogs, Online-Nachschlagewerke und Bücher aus der Bibliothek gleichrangig nebeneinander und durcheinander zu benutzen. Sie bilden sich ihre Meinungen, indem sie bekannte Kolumnisten mit den Kommentaren ihrer Freunde, Kollegen oder Netzbekanntschaften vergleichen. Und sie bewegen sich innerhalb von Geschäftsmodellen, die denen der Zeitungs- und der Buchverlage strikt zuwiderlaufen.

Für junge Leser wird der Zugang zur Information üblicherweise nicht mehr per Stück abgerechnet. Vielmehr bezahlt man für den Zugang selbst eine Art Abonnementgebühr, eine "flat rate" für Internet oder Handy, über die man sich dann ohne weitere Kosten alle Informationen oder Unterhaltung holt, wann immer und wo immer man möchte.

2) Groß und klein, weltweit zu Hause und doch "en famille"

Damit haben sich die Jungen der neuen Praxis bei den größten Informationskonzernen angeglichen. Die kanadisch-amerikanische Thomson-Gruppe etwa, die unlängst das führende Agenturnetzwerk Reuters gekauft hat, erwirtschaftet mittlerweile mehr als 80Prozent ihrer Einnahmen aus digitalen Publikationen und bevorzugt ganz entschieden Informationsdienste, die man im Abonnement an Firmen oder Einzelkunden anbieten kann. Werbeeinnahmen oder Verkäufe per Stück seien zu mühsam, wird verkündet. Ganz ähnlich hält es Reed Elsevier, der Weltmarktführer bei wissenschaftlichen Zeitschriften, oder Wolters Kluwer, der führende Konzern für lukrative Fachinformationen in Bereichen wie Steuer, Recht oder Wirtschaft.

Rechnet man die Umsätze der zehn größten Verlagsgruppen zusammen, ergeben sich weitere Überraschungen. Zwei Drittel der Umsätze resultieren bereits aus solchen elektronisch vertriebenen Inhalten und aus ebenfalls überwiegend digitalen Bildungsangeboten. Nur ein Drittel wird mit Büchern im traditionellen Sinn gemacht. Die weltweite Vormacht bei Verlagen aller Art ist übrigens Europa, nicht die USA.

Bei herkömmlichen Büchern ist Europas Vorrangstellung sogar noch deutlicher. Deutsche, französische und britische Konzerne mit ihren breitgefächerten Programmen geben weltweit den Ton an. Im Spitzenfeld liegen Bertelsmann / Random House, das zur französischen Mediengruppe Lagardère gehörende Hachette Livres, Pearson/Penguin (zugleich Eigentümer der Financial Times), in Italien Berlusconis Mondadori oder die spanische Grupo Planeta. In den USA liefern sich Bertelsmann und Hachette ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Bemerkenswert an diesen Unternehmen ist, wie sehr jedes einzelne noch durch die Wurzeln im Ursprungsland geprägt ist und dass mit Ausnahme von Pearson diese Verlagsgruppen von starken Eigentümerfamilien getragen werden. Aber selbst wenn man nicht die Konzerne, sondern die einzelnen Bücher betrachtet, sind europäische Titel und Autoren überaus prominent vertreten, und dies nicht nur, weil Harry Potter in einem englischen Internat Zaubern gelernt hat.

Schwedenkrimis haben, quasi als Türöffner, ein noch wenig beachtetes Phänomen auf den Weg gebracht, das ich den "europäischen Roman der neuen Generation" nennen möchte. Erst Henning Mankell und nun die gewaltige Romantrilogie von Stieg Larsson, Millennium, haben die Bestsellerlisten zwischen Skandinavien und Spanien neu aufgerollt. Ähnliches gilt auch für historische Romane aus Barcelona (Ildefonso Falcones Die Kathedrale des Meeres), Mafia-Geschichten (Roberto Savianos Gomorrha) oder die schrägen Berichte einer hässlichen, doch hochgebildeten Concierge aus Frankreich (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels). Es handelt sich um durchaus sperrige Bücher. Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt gehört in diese Rubrik, aber auch Saša Stanišić mit Wie der Soldat das Grammofon repariert.

Diese Romane ziehen ihre Spur mittels Übersetzungen quer durch die europäischen Sprachen. Sie entziehen sich häufig der Dominanz der englischsprachigen Märkte und wären nicht vorstellbar ohne die Internationalisierung der Verlagsgruppen und des Lesepublikums und seiner Neugierden.

3) Der Krimi in der Badewanne

"Ich werde nie meinen Krimi auf einem Computer (oder E-Book-Reader) lesen", lautet der geläufigste Einwand von Lesern gegen die neuen Dinger - vermutlich zu Recht. Besonders in den USA haben sich in diesem Jahr Ankündigungen zahlreicher Verlage geradezu überschlagen, alle Bestseller künftig gleich auch im elektronischen Format anzubieten. Das ist wohl einerseits eine Werbestrategie, weil man einfach eine größere Aufmerksamkeit für Neues über Spitzentitel erzielen kann als über Bücher für ein Nischenpublikum. Zum anderen aber könnte dies auch auf ein Missverständnis hindeuten, ähnlich den Fehlspekulationen beim letzten E-Book-Hype um das Jahr 2000.

Für einen - europäischen oder angelsächsischen - Bestseller mit einer Auflage von 50.000 oder mehr Exemplaren sorgt der Druck auf Papier wohl noch auf viele Jahre hin für die einfachste und billigste Form der Verbreitung. Charlotte Roche hat eben eine Million verkaufte Feuchtgebiete gefeiert. Stieg Larssons Millennium hat allein in Schweden mehr als zwei Millionen Buchkäufer gefunden.

Aber jährlich erscheinen allein im deutschen Sprachraum rund 96.000 neue Titel, die meisten in immer kleineren Auflagen. Von guten Romanen konnte man vor wenigen Jahren noch 10.000 bis 15.000 Exemplare absetzen, und nun häufig nur noch 3000. Die Zahl der Übersetzungen geht Jahr für Jahr zurück. Für Essays und Kulturgeschichte kann kaum noch ein Autor, der kein Medienstar ist, einen Verlag finden.

Kosten für Papier, Druck, Vertrieb und Lagerhaltung machen wenigstens die Hälfte des Ladenpreises eines Buches aus. In deutschen Branchenkreisen wird bereits heftig diskutiert, ob auch digitale Bücher einen gesetzlich gebundenen Ladenpreis haben sollten - oder die geringeren Herstellungs- und Vertriebskosten eher an Käufer und Leser weiterzugeben seien. Die Verteidiger des festen Ladenpreises sehen das System der Preisbindung in Gefahr. Die Befürworter der neuen flexiblen Möglichkeiten argumentieren mit der Vielfalt der Angebote und Zielgruppen.

Doch die Dynamik, die aus den digitalen Netzen kommt, reicht noch viel weiter. In China wuchern Fantasy-Romane längst wild übers Internet, weil die Geschichten mit Millionen Wörtern für gedruckte Bücher einfach zu umfangreich wären. Am Web spielt die Überlänge für die Fans keine Rolle. Zugleich aber finden die Geschichten eines Wolfgang Holbein - aus dem Ueberreuter-Verlag - in China auch in gedruckter Buchform Millionen Käufer. Was sich abzeichnet, ist nicht ein - gerne beschworenes - Ende des Buches, sondern eine neue, auch wild wuchernde Vielfalt der gleichzeitigen Wege und Möglichkeiten. Was sich allerdings auch abzeichnet, ist, dass die gewachsenen Geschäftsmodelle, bei denen wir in aller Regel pro Stück Lesestoff (oder pro Packung Musik) bezahlen, zusehends durcheinanderkommen werden. Das wird aber, wie schon die Musikindustrie durchleben musste, für alle Beteiligten, mit Ausnahme der Leser, keine einfache Überfahrt werden. Vermutlich wird es dabei auch nicht eine einzige Formel für das wirtschaftliche Überleben in turbulenten Zeiten geben, sondern sehr unterschiedliche Strategien für Große und Kleine, für lokale Verlage oder thematisch spezialisierte Plattformen mit verstreuter Leserschaft.

4) Mein Autor und ich

Noch eines lässt sich prognostizieren: Autoren und Lesepublikum werden enger zusammenrücken. Für Autoren, die nicht große Seller publizieren, wird es zunehmend wichtig, die eigene ‚Community‘ zu gewinnen und zu pflegen. Wer möchte, kann sich da der Tradition der romantischen Salons zu Beginn des 19.Jahrhunderts besinnen - jetzt verstärkt durch die neuen Informationsmedien und das Internet.

Es wächst aber auch der unmittelbaren Begegnung zwischen Autor und Lesepublikum eine neue Qualität zu. Es ist kein Zufall, dass literarische Festivals quer durch Europa boomen und dass auch hierzulande im November unter dem Motto "Buch Wien" eine neue Buchmesse und ein Lesefestival Premiere haben werden.

Es gilt aus der überbordenden Vielfalt nach den speziellen persönlichen Vorlieben die richtigen Bücher zu finden, sich mit Freunden auszutauschen und mit den Autoren direkt ins Gespräch zu kommen. Vorbereitung, Begleitung und Austausch zu Büchern und Lesen bis hin zum Kaufen haben längst ihre digitalen Verknüpfungen ausgebildet und darüber die persönliche Begegnung neubelebt. Die neuen digitalen Lesegeräte machen dies sichtbarer als bisher, und sie geben einen weiteren, durchaus kräftigen Impuls. Die Digitalisierung rund ums Buch ist keine Zukunftsvision, sondern längst Gegenwart. (Rüdiger Wischenbart, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 20./21.09.2008)