Ein Eislutscher ist nur ein Eislutscher. Oder? Katy Perry.

Foto: EMI

Wien - Anstößige Popstars sehen anders aus. Nicht wie das i-Pünktchen des Familienglücks einer US-amerikanischen Kleinfamilie aus den späten 50er-Jahren. Als Mädchen wie Katy Perry samstags mit Freundinnen ins Autokino fuhren, dort kichernd Limo tranken, Boys mit Ignoranz straften und sonntags mit Mami und Papi brav die Kirchenbank drückten.

Ein wenig von diesem Klischee des amerikanischen Friede-Freude-Eierkuchen-Traums trifft allerdings zu: Kate Perrys Äußeres ist tatsächlich den Fifties entliehen, und als Töchterchen von gleich zwei Pastoren - keine Sorge, einer davon ist weiblich! - pflegte sie natürlich unaufgefordert den sonntäglichen Kirchgang, ja, nahm als erstes in der Musikwelt wahrgenommenes Bäuerchen sogar ein christliches Album auf. Vergelt's Gott. Das war 2001 und ist definitiv Geschichte.

Mit ihrem nun erschienenen zweiten Album One Of The Boys (EMI) hat die als Katheryn Elizabeth Hudson Geborene die Richtung drastisch geändert. Weg vom Konfessionellen hin zu den weltlichen Versuchungen, denen sie scheint's mit Freuden nachgibt. Mit dem koketten I Kissed A Girl führt die Abtrünnige aktuell nicht nur die heimischen Charts an. In den für moralische Fragen in Vorwahlzeiten noch ein weniger empfindlicher als sonst reagierenden USA sorgte sie damit gar für ein Skandälchen. Eigentlich sogar für zwei.

Immerhin geht es in I Kissed A Girl um gleichgeschlechtliche Zuneigung: "I kissed a girl and I liked it." Die darin ebenfalls befindliche Textzeile "I hope my boyfriend don't mind" ging in der allgemeinen Erregung dann schon unter. Zumal Perry zu diesem Zeitpunkt längst als Wiederholungstäterin eingestuft war, also verrucht sein musste. Denn schon mit der im Frühjahr noch vor dem Album veröffentlichten Single Ur So Gay schlug sie ähnliche Wellen.

Darin rechnet sie mit ihrem Ex-Boyfriend ab, wünscht ihm, dass er sich "an seinem H-&-M-Schal erwürgt, während er sich einen runterholt". Dem nicht genug, outet sie ihn auch noch als homosexuell: "Du bist so schwul." Nachsatz: "Dabei magst du gar keine Jungs."

Damit zog sich die 23-Jährige aus dem sonnigen Santa Barbara in Kalifornien nicht nur Madonnas Sympathien, sondern auch die Kritik von Homosexuellen, generell um Moral besorgten und Feministinnen zu. Ganz schön viel Lärm um eher wenig.

Sittenverfall!

Homosexuelle stießen sich an den schwulen Stereotypen, die die heterosexuelle Perry in dem Song verwendet, Feministinnen vermissen den theoretischen Unterbau, sprechen von hedonistischem Light-Feminism, der nur von den Errungenschaften des Feminismus zehrt, aber nichts zu ihm beiträgt, und Moralpredigern ist ohnehin jeder Anlass recht, um den von der Popkultur vorangetriebenen Sittenverfall zu beklagen.

Schließlich gehen Prüderie und Pop seit jeher Hand in Hand. Das erstaunliche an dieser Hassliebe ist die Konsequenz, mit der diese Beziehung gerade im Mutterland des Pop, den USA, aufrechterhalten wird. Ebenso erstaunlich ist die Lernresistenz der Moralisten, die die ihrer Ansicht nach sittlichen Verfehlungen im weiten Feld der Popkultur mit päpstlicher Unbeirrbarkeit anprangern. Das begann mit der Unterleibsamputation von Elvis Presleys TV-Auftritten in den 50er-Jahren und findet heute seine Fortsetzung in aufgepixelten Bildern in diversen HipHop-Videos, in denen zu viel Haut der Darstellerinnen gezeigt wird.

Dazwischen gab es immer wieder private und öffentliche Erregungen - bis hin zu Tragödien. Von der Ermordung des Soul-Giganten Marvin Gaye durch seinen eigenen Vater, einen Pastor, der seines Sohnes Leben als vom Teufel bestimmt sah und es deshalb 1984 auslöschte, bis zu den politisch breit unterstützten Zensurversuchen Tipper Gores, der Ehefrau des Friedensnobelpreisträgers Al Gore.

Sex und Satan

Tipper Gore war Mitte der 80er-Jahre Mitbegründerin des "Parents Music Resource Center", das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, vor Musik zu warnen, die Themen wie Sex, vermeintlichen Satanismus oder Gewalt zum Inhalt hatte. Cyndi Lauper (Girls Just Wanna Have Fun), die Comic-Rocker Kiss, die unfreiwilligen Comic Rocker Mötley Crue, Geilspecht Prince, Sheena Easton (9 To 5) oder Madonna bekamen es mit Gores verkorksten Moralvorstellungen ebenso zu tun wie HipHop-Künstler. Allen voran der Gangsta-Rapper Ice-T, der Gore auf seinem Album The Iceberg/Freedom of Speech ... Just Watch What You Say wegen ihrer Zensurversuche alle Facetten seiner fehlenden Kinderstube angedeihen ließ.

Gores Wirken verdanken manche Künstler auf ihren Alben bis heute den Hinweis "Parental Advisory: Explicit Lyrics".

Dieser "Tipper Sticker" genannte Aufkleber, eigentlich als Fingerzeig für Eltern gedacht, um böse Musik leichter als solche zu erkennen, wurde gerade vom HipHop bald zum Qualitätssiegel umgewidmet. Er hat also genau das Gegenteil bewirkt.

Provokation als Strategie

Und selbst im kantenlosen Mainstream-Pop, dem Katy Perry zuzurechnen ist, steckt noch soviel Renitenz, dass sich derlei Anfeindungen - die letztlich nur anmaßende Bevormundungen eines freiwilligen Publikums sind - als unbezahlbare Werbung verwenden lassen. Eine Einsicht, derzufolge etwa Madonna die Provokation längst zu einem (berechenbaren) Teil ihrer Trademark gemacht hat. Sei es, dass sich die "Queen of Pop" in Videos wie Jesus kreuzigen lässt oder Britney Spears bei einer Preisverleihung vor einem Millionenpublikum den Madonna-Schlecker in den Britney-Mund schiebt. Huch!

Was bei der obersten und erfolgreichsten Pop-Marketing-Strategin funktioniert, klappt natürlich auch ein paar Geschoße tiefer noch vortrefflich. Weshalb I Kissed A Girl zurzeit in 15 Ländern der Welt auf Platz eins der Verkaufscharts steht, in etlichen anderen ist es immerhin noch in den Top Ten zu finden. Zu Perrys ach so kontroversiellen Texten wurde der Rest ihres Images bestens abgestimmt. Am Cover ihres Albums kokettiert sie mit dem Lolita-Image. Das Artwork wirkt wie aus einer kolorierten Stanley-Kubrick-Verfilmung von Vladimir Nabokovs gleichnamigem Roman entnommen. Mit einem ähnlichen Image hat die Kunststripperin Dita von Teese einschlägige Karriere gemacht.

Demgegenüber steht die Musik Perrys, die sich all ihrem theoretisch vorhandenen Charmepotenzial versagt und als erstaunlich seelenlose Meterware daherkommt. Perry spielt einen schablonenhaften Poprock, der sich ohne wahrnehmbare persönliche Note irgendwo zwischen der Punker-Göre Avril Lavigne und Tanzmäusen wie Gwen Stefani einreiht - nur eben mit Pfuigack-Texten.

Der von ihr selbst als Einfluss angegebene Gemischtwarenhandel aus den britischen Glam-Poppern Queen oder der kanadischen Folk-Instanz Joni Mitchell lässt sich beim besten Willen nicht heraushören. Bloß die Neigung, ihre Stimme bis zum kunstvollen Überkippen nach oben zu ziehen, hat Perry sich bei der von ihr ebenfalls verehrten Alanis Morrisette abgeschaut.

Niedliche Melodie

Einen Ausreißer aus der der ästhetischen Gleichförmigkeit von One Of The Boys bildet lediglich das erwähnte Ur So Gay, das mit lässig angeschlagener Akustik- Gitarre, abgebremsten elektronischen Beats und seiner niedlichen Kindermelodie so etwas wie den perfiden Höhepunkt eines ansonsten platten Albums bildet.

Ob nun geschickt oder nicht, der Sache förderlich oder hinderlich, ob kühl kalkuliert oder zufällig - was Katy Perrys Album in den USA bewirkt, ist zumindest eine weitere Diskursfront über Homosexualität auf breitem Wahrnehmungsniveau. Und diese kann einem Land nicht schaden, über das der liberale Moderator Bill Maher in seiner Fernsehshow Real Time with Bill Maher auf HBO einst meinte: "In America - if one man puts something in another man - it'd better be a bullet." (Karl Fluch, DER STANDARD/Printausgabe, 22.09.2008)