Dieses Gestein ist fast so alt wie unser vor 4,5 Milliarden Jahren entstandener Planet.

Foto: Science/AAAS

Washington - Die Ungava-Halbinsel im Norden der kanadischen Provinz Quebec gehört definitiv nicht zu den aufregendsten Regionen der Welt. Das ausgedehnte Gebiet ist kaum besiedelt, seine Weiten sind praktisch unbewaldet, Gebirge fehlen, und das kalte, trockene Klima trägt nicht zur Attraktivität bei.

In Wissenschaftskreisen jedoch hat Ungava heuer für Aufregung gesorgt. Eine unscheinbar wirkende Felsformation an der Küste der Hudson Bay birgt Spuren aus der ersten Zeit nach der Geburt unseres Planeten vor rund 4,5 Milliarden Jahren. Die Debatte über den genauen Entstehungsprozess der Erdkruste erhielt damit neuen Schwung.

Besagter Felsen - der "Nuvvuagittuq greenstone belt" - ist zwar schon seit Jahrzehnten bekannt, man dachte aber lange, dass er ein eher normales, überwiegend aus Paragneis bestehendes Gebilde sei.

Im Rahmen der geologischen Großkartierung Quebecs stellten Fachleute vor sechs Jahren dann fest, dass der angebliche Paragneis eine besondere Zusammensetzung hat und extrem alt sein dürfte, vergleichbar mit der berühmten Itsaq-Formation in Südwest-Grönland.

Geschichte eines Gesteins

Ein US-amerikanisch-kanadisches Forscherteam nahm sich des seltsamen Felsens an und versucht seitdem, seine Geschichte zu ergründen. Als besonders aufschlussreich haben sich Isotopen-Analysen von Nuvvuagittuq-Gesteinsproben erwiesen.

Letztere enthalten ungewöhnlich niedrige Konzentrationen des Metalls Neodym(Nd)-142, viel weniger als weltweit üblich. Hieraus lasse sich, so die Experten, der Zeitpunkt der Kristallisation des Felsens berechnen. Sie habe demnach vor 4,28 Milliarden Jahren stattgefunden. Das Gestein könnte sogar "der älteste erhaltene Teil der Kruste auf Erden" sein, schreiben die Wissenschafter in der aktuellen Ausgabe der Wissenschaftszeitschrift Science (Bd. 321, S. 1828). Bisher galt der sogenannte Acasta-Gneis in den kanadischen Nordwest-Territorien mit 4,03 Milliarden Jahren als das älteste Gestein.

Die Neodynium-Methode beruht auf einer physikalischen Besonderheit: Nd-142 ist als Produkt des radioaktiven Zerfalls des Samarium(Sm)-Isotops-146 entstanden. In der glühenden Masse der neugeborenen Erde war Sm-146 noch relativ häufig. Seine Halbwertszeit betrug allerdings nur 103 Millionen Jahre, folglich ist dieses Samarium-Isotop schon längst "ausgestorben". Die Atome haben sich alle in Nd-142 umgewandelt.

Den gängigen Theorien nach waren Sm-146/Nd-142 vor über vier Milliarden Jahren nicht gleichmäßig zwischen der neugebildeten Erdkruste und dem darunterliegenden Erdmantel verteilt. Letzterer hatte eine viel höhere Konzentration (vgl. Science, Bd. 318, S. 1907). Spätere Durchmischungsprozesse hätten den Nd-142-Gehalt der Erdkruste steigen lassen. Außer im Nuvvuagittuq-Gestein, welches schon vorher kristallisierte.

Gegen den Zahn der Zeit

Wie aber konnte der Felsen so lange dem Zahn der Zeit widerstehen, anstatt der Erosion zum Opfer zu fallen oder infolge tektonischer Prozesse wieder ins Erdinnere zu verschwinden? "Das wissen wir nicht", sagt der Geologe Jonathan O'Neil von der McGill University in Montreal im Gespräch mit dem Standard. Vermutlich, so der Forscher, ist das Gestein nach seiner Entstehung für lange Zeit wieder unter die Erdoberfläche gewandert, allerdings nicht tief genug, um vollständig geschmolzen zu werden. Darauf weisen Einschlüsse mit abweichender Zusammensetzung hin.

Vor weniger als 2,7 Milliarden Jahren könnte das Material dann wieder an die Oberfläche gekommen sein, zuerst als Teil eines Meeresbodens. Eisenhaltige Adern ließen sich eventuell als Produkt bakterieller Aktivität in der damaligen Tiefsee deuten, doch das, betont Jonathan O'Neil, sei alles noch sehr spekulativ. Und Gegenstand zukünftiger Studien. (Kurt de Swaaf/DER STANDARD, Printausgabe, 26.9.2008)