"Viele WählerInnen wurden durch die Politik der letzten zwei Jahre von der Wahlurne vertrieben, wir haben die niedrigste Wahlbeteiligung seit 1945."

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Das Ergebnis der Nationalratswahlen hat den Politologen Emmerich Tálos nur zum Teil überrascht, sagt er im Interview mit derStandard.at. Die großen Zugewinne beim BZÖ und das schlechte Ergebnis des LIF seien nicht vorhersehbar gewesen. 

In einem Interview wenige Tage vor der Wahl hat Tálos einer SPÖ-Minderheitsregierung Chancen eingeräumt. Das sieht er jetzt nicht mehr so: "Wenn es zu einer Minderheitsregierung kommt, wird sich die Willigkeit von den Gewinnern BZÖ und FPÖ, inhaltliche Teilkoalitionen wie letzte Woche im Parlament zu schließen, in Grenzen halten." Er erwartet sich entweder eine schwarz-blau-orange Koalition oder abermals eine Große Koalition, letztere allerdings nur dann, wenn Molterer abdankt. Aber davon geht Tàlos aus, sagte er im Gespräch mit Rosa Winkler-Hermaden.

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derStandard.at: FPÖ und BZÖ sind die beiden großen Wahlsieger. Haben sie damit gerechnet?

Tálos: Bei der FPÖ hat mich das weniger überrascht als beim BZÖ. Die Umfragen in der letzten Zeit deuteten durchgängig darauf hin, dass die FPÖ 17 Prozent und mehr erreichen könnte. Das BZÖ hat sich verdreifacht, damit habe ich nicht gerechnet.

derStandard.at: Worauf sind die starken Zugewinne zurückzuführen?

Tálos: Die SPÖ-ÖVP-Koalition 2007/2008 war ein Verhängnis. Die Akteure haben sich selbst beschädigt, man sieht das am Absturz beider Parteien. Viele WählerInnen wurden durch die Politik der letzten zwei Jahre von der Wahlurne vertrieben, wir haben die niedrigste Wahlbeteiligung seit 1945.

Diese Politik hat zudem die Basis für viel Enttäuschung und Frust gelegt. Davon haben FPÖ und BZÖ beträchtlich Nutzen gezogen. Außerdem hat der Wahlkampf, wie er in den letzten Wochen abgelaufen ist, diesen beiden Parteien sehr genützt. Es war ein Wahlkampf, wo sie auf ihrem Klavier sehr gut mitspielen konnten, etwa bei den Themen Pensionen, Familienbeihilfe, Hacklerregelung oder Mehrwertsteuersenkung. Damit wurde eines ihrer Kernthemen, die Ausländer- und Ausgrenzungspolitik, ein wenig überlagert - obwohl es immer präsent war.

derStandard.at: Wieso hat die ÖVP mehr verloren als die SPÖ?

Tálos: Die ÖVP kam, obwohl sie die Neuwahlen ausgelöst hat, nicht vom Fleck. Die parteiinterne Stimmung beim Wahlkampfstart war ziemlich unterkühlt: Die ÖVP Spitze ist nicht gleich von Anfang an von allen Länderorganisationen unterstützt worden. Außerdem wurde die ÖVP von den Ankündigungen des Koalitionspartners SPÖ überrascht.

Von der SPÖ war es strategisch äußerst geschickt, ihren neuen Spitzenkandidaten mit dem Fünf-Punkte-Forderungspaket in den Wahlkampf zu schicken. Dieses Forderungspaket hat den Wahlkampf wesentlich bestimmt. Der ÖVP ist es dann nicht mehr gelungen, dem mit eigenständigen Vorstellungen gegenzuhalten, sie kam aus der Defensive nicht mehr raus.

Dass der Abstand zwischen SPÖ und ÖVP so groß ist, hat aber auch mit dem Wahlhelfer Kronen Zeitung zu tun. Sicherlich hat auch Spitzenkandidat Molterer zu dem Ergebnis beigetragen. Er ist im Vergleich zu Faymann blass geblieben, er hat einen anderen Stil der Vermittlung von "Botschaften".

derStandard.at: Wird Molterer zurücktreten müssen?

Tálos: Das wird die ÖVP entscheiden, aber ich gehe davon aus. Ich nehme an, dass eine so große, massive Niederlage zu personellen Konsequenzen führt. Das würde bedeuten, dass andere Kräfte in der ÖVP nachrücken. Damit ist auch die Ära Schüssel beendet. Das Ende dieser Ära wurde 2006 eingeläutet, jetzt ist es wohl endgültig.

derStandard.at: Auch die Grünen haben ein sehr schwaches Ergebnis eingefahren. Wird Alexander Van der Bellen gehen müssen?

Tálos: Bei den Grünen wird das nicht so schnell gehen wie bei der ÖVP. Bei der ÖVP gibt es einen enormen Druck, den wird es bei den Grünen in diesem Ausmaß nicht geben. Ich nehme an, dass Van der Bellen im nächsten Wahlkampf nicht mehr Spitzenkandidat sein wird und im Lauf der nächsten Legislaturperiode zurücktreten wird.

derStandard.at: Was sind die Gründe für die Verluste bei den Grünen?

Tálos: Die Themen, die im Wahlkampf bestimmend waren, waren keine Grünen-Themen. Zum Teil haben sich die Grünen auch von Vorschlägen distanziert, wie beispielsweise die Senkung der Mehrwertsteuer. Der Wahlkampf war insgesamt sehr pragmatisch, er war auf kurzfristige Beschlüsse fokussiert. Die Grünen haben längerfristiger wichtige Dinge thematisiert, wie Bildung und Klima. Damit sind sie offenbar nicht durchgedrungen. Der Wahlkampf bewegte sich an den Grünen vorbei.

derStandard.at: Sehr enttäuschend ist das Ergebnis auch für das LIF. Damit haben auch Sie nicht gerechnet?

Tálos: Nein, habe ich nicht. Ich war erstaunt darüber, wie wenig Akzeptanz das LIF bekommen hat. Ich würde davon ausgehen, dass der Rücktritt des Bundessprechers Zach und die ganze Vorgeschichte dem LIF geschadet haben.

derStandard.at: Kann es eine Wiedervereinigung zwischen FPÖ und BZÖ geben?

Tálos: Das BZÖ wird das wollen, für die Orangen ist das eine wichtige Option. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass Strache eine Wiedervereinigung will. Er hat beträchtlich zugelegt und keinen Druck zur Vereinigung mit dem BZÖ. Strache ist jetzt ein Player, der in den nächsten Jahren eine wichtigere Rolle spielen wird. Wenn die FPÖ nicht an der Regierung beteiligt würde, kann er zuwarten. So wie Haider in den 90er Jahren. Wenn eine Große Koalition zustande kommt, wird die FPÖ bei der nächsten Wahl vermutlich noch stärker.

derStandard.at: Wie wird es weitergehen? Welche Koalitionen kommen infrage?

Tálos: An Möglichkeiten gibt es drei: eine Große Koalition, eine Dreierkoaltion geführt von ÖVP mit BZÖ und FPÖ und eine SPÖ-Minderheitenregierung. Andere Möglichkeiten - wie z.B. ein Beamten- oder Expertenkabinett - sehe ich zurzeit nicht. Faymann hat eine Koalition mit der FPÖ und dem BZÖ dezidiert ausgeschlossen. In der ÖVP gibt es Kräfte, die das wollen - wobei sie mit dem BZÖ immer schon besser konnten als mit der FPÖ. Der Knackpunkt hierbei wird aber sein, ob die FPÖ mit dem BZÖ koalieren will.

Die Wahrscheinlichkeit einer Minderheitenregierung hatte ich vor der Wahl höher eingeschätzt als jetzt nach der Wahl. FPÖ und BZÖ werden aufgrund der hohen Zugewinne Anspruch auf Regierungsbeteiligung stellen. Wenn es aber zu einer Minderheitenregierung der SPÖ käme, wird sich die Willigkeit dieser Gewinner, inhaltliche Teilkoalitionen wie letzte Woche im Parlament zu schließen, in Grenzen halten.

derStandard.at: Wie lange wird es dauern bis eine Koalition steht?

Tálos: Das hängt wesentlich davon ab, wie die Konstellation zwischen SPÖ und ÖVP ist. Wenn es hier zu Annäherungen kommen sollte, wird es nicht lange dauern. Wenn allerdings nichts aus der Großen Koalition wird, wird es eingehende Verhandlungen mit FPÖ und dem BZÖ geben. Das wird schwierig. Und das könnte sehr lange dauern.

derStandard.at: Könnten die Grünen bei einem Dreierbündnis dabei sein?

Tálos: Dann müssten sie mit FPÖ oder BZÖ zusammenarbeiten - das würde meines Erachtens ein Alexander Van der Bellen nie und nimmer machen. Die Regierungsbeteiligung der Grünen halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. (derStandard.at, 29.9.2008)