Eine des Mordes Angeklagte, die ihre Unschuld beteuert: Nora Gregor als Titelheldin in "Mordprozess Mary Dugan"  aus dem Jahr 1931.

Foto: Viennale

Christine, die schöne junge Frau des Marquis de la Chesnaye, beherrscht die Regeln nicht. Sie ist zu freundlich zu anderen und zu skrupulös, wenn es darum geht, sich an den kultivierten Grausamkeiten der französischen Oberschicht zu beteiligen. Längst verstrickt in einen Intrigenreigen, versucht sie immer noch, zuallererst ihren Gefühlen zu folgen. Aber die Fäden werden von anderen gezogen, und am Ende bleibt ihr nur, sich zu fügen.

Christine, die Österreicherin in Jean Renoirs großartigem hellsichtigem Zeitbild Die Spielregel/La Règle du jeu, die nicht von ungefähr wie ein später Nachhall auf die verhasste, geschasste und geköpfte notorische "Autrichienne" Marie-Antoinette wirkt, wird tatsächlich von einer solchen verkörpert.

Die Schauspielerin Nora Gregor kommt 1901 in Gorizia, dem damaligen zur k.u.k. Monarchie gehörenden Görz, zur Welt. Als 17-Jährige debütiert sie in Wien als Theaterschauspielerin, wenig später folgen erste Filmrollen. Gregor arbeitet bald in Wien und Berlin mit renommierten Regisseuren wie dem Dänen Carl Theodor Dreyer, mit Paul Czinner oder Joe May. Ihre Kolleginnen und Kollegen vor der Kamera heißen Walter Slezak, Elisabeth Bergner, Grete Mosheim, Ossi Oswalda, Conrad Veidt, Gustav Fröhlich oder Peter Lorre.

Die Einführung des Tonfilms bedeutet für Gregors Karriere keinen Bruch. Vielmehr erweitert sich damit zunächst ihr Betätigungsfeld, Gregor geht 1930 nach Hollywood, um dort - in der Blütezeit der Versionenfilme - in deutschsprachigen Fassungen von US-Produktionen mitzuwirken. 1932 kehrt sie nach Österreich zurück, 1938 allerdings ist sie zur Flucht gezwungen - ihr zweiter Ehemann ist der Heimwehr-Führer Ernst Rüdiger von Starhemberg. Im Exil in Frankreich spielt sie in besagtem Film La Règle du jeu, nach der Okkupation gelingt ihr neuerlich die Flucht, diesmal nach Südamerika. In Chile übernimmt sie 1944 noch eine Rolle, in Le Moulin des Andes. Erst 1949 wird er uraufgeführt. Im selben Jahr, unterwegs zu ihrem Mann in die USA, stirbt Nora Gregor in einem Hotelzimmer in Santiago de Chile.

Verführerin und Betrogene

Das Filmarchiv zeigt nun im Rahmen der Viennale alle derzeit noch greifbaren Filme - neun an der Zahl -, welche die darstellerische Tätigkeit Gregors zwischen 1921 und 1945 dokumentieren. In Dreyers Michael (1924, das Drehbuch hat Thea von Harbou mit dem Regisseur verfasst) zum Beispiel tritt sie als mondäne russische Fürstin in Erscheinung. Diese wird bei einem gefeierten Maler vorstellig. Er soll ihr Porträt malen - und scheitert fast daran. Vielleicht weil schon das Gesicht der Schauspielerin hier ein gemaltes ist. Stark überschminkt, ist sie weniger Figur mit Eigenleben denn ein Objekt Dreyer'scher Großaufnahmen: Körper, Gesichter, herausgelöst aus den Koordinaten - lichte, weiße Träger eines Affekts, die sich von der Umgebung abheben.

Ohnedies steht hier die homoerotische Beziehung des Titelhelden zu seinem Mentor, dem Maler, im Vordergrund. Die Russin ist eine Randfigur, ihre zerstörerische Egozentrik wird vom stillen Leiden einer braven Ehefrau konterkariert, deren aussichtslose Liebe zu einem jungen Verehrer tragisch enden muss.

Auch in Paul Czinners Verwechslungstragikomödie Der Geiger von Florenz (1926) stehen Gregor - und ihr Leinwandcharakter - einer Konkurrenz gegenüber: Czinner besetzt sie als zweite Ehefrau eines wohlhabenden Mannes, dessen Teenager-Tochter gegen die neue Partnerin des Vaters heftig opponiert. Czinner lässt diese im Film sehr viel prominentere Rolle von seiner späteren Ehefrau Elisabeth Bergner spielen. Gregor hat ein paar kurze Auftritte. Bergner dagegen spielt mit ihrem unnachahmlichen Körpereinsatz, ist ständig in Bewegung, alert, quirlig, mimt dann wieder mit großen Augen Betroffenheit. Gregor - tatsächlich die um vier Jahre jüngere der beiden Frauen - wirkt vergleichsweise farblos. Die vielsagenden Großaufnahmen bleiben für die Tochter reserviert.

Im Melodram Der Mann, der sich verkauft wiederum, inszeniert 1925 von Hans Steinhoff, einem nachmaligen Paraderegisseur der NS-Filmindustrie, gibt sie eine betrogene Ehefrau. Auch hier ist das Mondäne, Hintergründige ihrer Widersacherin, einer Schauspielerin, mit der der Ehemann ein Verhältnis hat, vorbehalten. Die düpierte Gattin leidet still, wahrt Haltung, zumal vor ihrer kleinen Tochter. Gregor spielt die Rolle mit der gebotenen Zurückhaltung.

Erst nach ihrer Rückkehr aus den USA spielt sich die nunmehrige Burgschauspielerin auch im Kino zunehmend in den Vordergrund - zum Beispiel als gewitzte Diebin in Géza von Bolvárys romantischer Komödie Was Frauen träumen (1933). Renoirs Christine schließlich wirkt wie ein Versprechen auf eine weitere neue Karriere. Eingelöst werden wird es nicht mehr. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.10.2008)