Adrian Nicole LeBlanc

Foto: Fischer

Zwischen Armut, Drogen, Gefahr und zugleich viel Wärme und Solidarität: Bei der Vorstellung der deutschen Übersetzung in Wien sprach sie über ihre Arbeit

Standard: Vor wenigen Tagen ist Studs Terkel gestorben, ein Meister der Sozialreportage und der Oral History. Was hat er Ihnen bedeutet?

LeBlanc: Ich hätte ihn vor Kurzem sogar für die Paris Review interviewen sollen, weil man mich in einer ähnlichen Tradition sieht, was die langen Interviews angeht. Doch er war schon zu krank. Was mich mit ihm verbindet, ist die Prämisse, dass das Leben ganz gewöhnlicher Leute sehr interessant ist und viel Zeit und Aufmerksamkeit verdient. Der Unterschied ist: Er konnte seine Arbeit wirklich in Gesprächen realisieren ...

Standard: Er war ein Radio-Mensch.

LeBlanc: ... Ja, und ich ziehe es vor, zwar dabei zu sein, aber ohne zu fragen - einfach zu beobachten und es nachher niederzuschreiben.

Standard: Wer ist außerdem wichtig für Ihre Arbeit?

LeBlanc: Vor allem John McPhee (Autor des New Yorker) wegen seiner Fähigkeit, Geschichten zu strukturieren. Dann Truman Capote und Norman Mailer mit ihren Non-Fiction-Arbeiten. Und (der New Journalist) Gay Talese.

Standard: Talese konzentriert sich zumeist auf italienische oder italo-amerikanische Schicksale. Haben Sie einen vergleichbaren Fokus?

LeBlanc: Nein, die Protagonisten von Zufallsfamilie sind Puertoricaner in der Bronx, weil die erste, die ich kennen gelernt habe, Coco, von dort stammte, und der Rest hat sich durch ihre sozusagen erweiterte Familie ergeben.

Standard: Sie haben sie 1989 kennen gelernt, das Buch beginnt aber schon 1985. Haben Sie sich retrospektiv literarische Freiheiten etwa in den Dialogen genommen, wie das die New Journalists gerne tun?

LeBlanc: Ich vermeide das. Vieles konnte ich rekonstruieren, weil eine der Hauptfiguren, der Drogen-Dealer Boy George, jahrelang von der Polizei beobachtet wurde, es gab Videos und Telefonprotokolle und auch Fotos....

Standard: Das haben Sie alles bekommen?

LeBlanc: Ja. Weil ich so lange an dieser Geschichte dran war, haben sie schließlich das Material für mich freigegeben. Aber ich möchte keine Szenen erfinden, ich denke, der Leser hat ein Recht auf Authentizität. Sonst wäre es nicht Non-Fiction.

Standard: Wie konnten Sie sich so lange, fast 12 Jahre, auf Ihr Buch konzentrieren?

LeBlanc: Ich hatte Jobs bei Magazinen, und dann hatte ich sogar einen anonymen Sponsor, der an das glaubte, was ich tat, und mich finanziell unterstützte.

Standard: Wie kommt man zu so jemandem?

LeBlanc: Eine Freundin von mir kannte ihn und erzählte ihm, dass sie jemanden wüsste, die Unterstützung brauchen könnte. Ich habe ihn inzwischen kennen gelernt, er ist ein reicher Künstler und eben ein Philanthrop.

Standard: Wie viel Zeit haben Sie tatsächlich in der Bronx verbracht, um das Leben Ihrer Protagonisten zu verfolgen?

LeBlanc: Im Schnitt vier Abende die Woche und die Wochenenden. Manchmal habe ich mich in eine Künstlerkolonie zurückgezogen, um zu schreiben, dann war es weniger. Aber einmal war ich da auch in Connecticut, in der Nähe eines Gefängnisses, in dem Jessica saß - da konnte ich sie dann auch besuchen. Und als ein Teil der Familie aus New York wegzog, hab ich sie Upstate öfters gleich mehrere Tage lang besucht.

Standard: Wie viel von dem Material, das sie angesammelt haben, haben Sie verwendet?

LeBlanc: Das Verhältnis ist leider circa zehn zu eins. Aber so ist das wohl immer bei so einer Arbeit. Jetzt allerdings könnte aus dem Buch eine TV-Serie, für HBO, werden, und da könnte einige Recherche noch einfließen. Das wäre auch eine gute Gelegenheit, die Wirklichkeit dieser puertoricanischen Menschen noch einmal präzise darzustellen. Das Buch - es hat sich gut verkauft - wurde in Amerika ein wenig unter dem Motto rezipiert: Ah, die schreibt über die Armen in der Bronx, die Schwarzen; genauer schauen die Leute nicht hin.

Standard: Was auffällt ist, dass Sie die meiste Zeit deskriptiv vorgehen und nur ganz selten analytisch, kommentierend schreiben. Das ist für eine Sozialreportage von mehreren hundert Seiten ungewöhnlich.

LeBlanc: Meine Lektorin wollte auch, dass ich mehr über Grundsätzliches schreibe. Aber ich wollte die Themen wie Armut für sich sprechen lassen, wie sie im Leben der Menschen vorkommen, nicht durch Statistiken oder abstrakte Abhandlungen. Gerade Amerikaner sehen Armut überwiegend als Folge von persönlichen Fehlentscheidungen, und da war es mir wichtig zu sagen, so einfach ist das nicht, schaut euch die komplexe Wirklichkeit an. Das gilt mit anderen Vorzeichen auch für das Buch, an dem ich gerade arbeite, über Stand-up Comedians (Bühnenkomiker).

Standard: Wie kamen Sie zu diesem Thema?

LeBlanc: Eigentlich als direkte Folge der Zufallsfamilie. Da wurde auch das Thema der sexuellen Misshandlung von Buben gestreift, aber nicht wirklich behandelt, weil niemand darüber on the record reden wollte. Ein Komiker hingegen, den ich danach sah, machte es zu einem Thema seiner Show. Zunächst wollte ich nur ihn porträtieren, doch nun geht es auch um seine Kollegenschaft, um das gegenwärtige amerikanische Bild der Maskulinität.

Standard: Wie gehen Sie vor?

LeBlanc: Wenn man mit diesen Leuten tagsüber und abends unterwegs ist, dann versteht man neu und anders, wie sie arbeiten und funktionieren. Diesmal werde ich selber im Buch vorkommen, womit ich Schwierigkeiten habe. Aber ein Teil das Materials schließt mich ein, die Leute reagieren auf mich, sie reißen Grenzen ein, und das kann ich nicht weglassen. Sonst würden die Szenen keinen Sinn ergeben. Doch im Grunde bin ich Journalistin, weil ich denke, dass andere Dinge viel interessantere Themen sind, als ich es bin.

(Michael Freund, DER STANDARD/Printausgabe, 05.11.2008)