Bei den Titeln ihrer Bücher liebt Olga Flor es kurz und bündig: Erlkönig (2002), Talschluß (2005) und jetzt Kollateralschaden. Das Wort hat in den Neunzigerjahren eine erstaunliche Karriere vom Fachbegriff zum Bestandteil des allgemeinen Sprachgebrauchs gemacht, ähnlich wie die „Schubumkehr", die nach dem Absturz der Lauda-Air-Maschine in Bangkok dank Robert Menasse ja auch zu literarischen Ehren kam. Im Kosovokrieg war der im Irak erprobte „Kollateralschaden" bei Nato-Sprechern so beliebt, dass er 1999 zum offiziellen „Unwort des Jahres" avancierte. Laut Meyers Lexikon versteht man darunter einen „bei einer militärischen Aktion entstehenden (schweren) Schaden, der nicht beabsichtigt ist", aber „dennoch in Kauf genommen wird". Für Flors neues Buch ist das nichts weniger als der perfekte Titel.

Countdown zum Showdown

Flor ist gelernte Experimentalphysikerin - und sie setzt in ihrem Werk auf das Experiment: Keiner ihrer Romane gleicht dem anderen, jedes Buch hat seine Form, seine eigenen Regeln, die es durchexerziert. War die Versuchsanordnung in Talschluß eine Geburtstagsfeier, bei der eine Viehseuche eine Gruppe von Wohlstandsmenschen unerwartet auf einer Alm isoliert und festhält, so ist Kollateralschaden hauptsächlich in einem Supermarkt angesiedelt. Genau eine Stunde wird, Minute um Minute, heruntergezählt, von 16.30 bis 17.29, ein Countdown zum Showdown, jeder Minute entspricht ein Kapitel.

Menschen aus allen sozialen Schichten führt Flor an diesem Fixpunkt des urbanen Alltags zusammen; was sie denken, erlebt haben, befürchten, erfahren wir aus dem von der Autorin in genau kalkulierte Bahnen gelenkten Fluss ihrer Bewusstseinsströme. Da ist etwa Doris, die Kilokalorien zählende Jungmanagerin, da ist Anton, der Sandler mit Prinzipien, der von der neuen Kassiererin nicht bedient wird und auf Rache sinnt, da ist Horst, der pensionierte Beamte, der sich nach der Übersichtlichkeit des Stadtbauamtes sehnt, da ist die sechzigjährige Anna, die ihren rabiaten Gatten mit Engelsgeduld betreut.

Was sie alle am Ende erwartet, ist nicht ganz so dramatisch wie das, was den Akteuren in Thornton Wilders Brücke von San Luis Rey blüht - aber Blut fließt doch. Mo, ein Halbwüchsiger (dessen Mutter keine Zeit für ihn hat, weil sie, die Sprachheilpädagogin, als Bedienerin arbeiten muss), plant eine Aktion, einen akrobatischen „Sturmlauf durch den Überfluß", der etwas danebengeht. Was vor allem an der Erwartungshaltung seiner Mitbürger liegt: Wo immer jemand die Ruhe stört, schreien alle gleich Zeter und Mordio.

Übermotivierter Journalist

Die Angst vor „dem Terror" hat eine hysterische Gesellschaft hervorgebracht, eine Gesellschaft im Krieg. Flor beschreibt einen eingebildeten Ausnahmezustand und, im Wortsinn minutiös, die Mechanismen, die dazu führen. Maßgeblich beteiligt sind ein karrierestrategisch übermotivierter Journalist und eine rechtspopulistische Politikerin namens Luise, deren Geschichte an eine reale Gestalt der jüngeren steirischen Politik erinnert: Ihr Mann wurde als (vermeintlicher) Einbrecher erschossen, das gemeinsame Kind brachte sie als Witwe zur Welt.

Dass ihr Gatte offenbar einen Versicherungsbetrug geplant hatte, stört nicht weiter: Luise stilisiert sich zur Märtyrerin, die ihr persönliches Glück auf dem Altar von Law and Order geopfert hat, und sie ist wild entschlossen, ihren Langzeitgeliebten, den Landesparteichef, auszustechen, um endlich den entscheidenden Schritt aus der zweiten in die erste Reihe zu tun. Das Ende, ein Kollateralschaden der kollektiven Bemühung um Sicherheit, stimmt den Leser, so viel darf man verraten, doch ziemlich schadenfroh.

Umschlagplatz der Warenwelt

Flors Buch belehrt all jene eines Besseren, die meinen, man könne heute keine politischen Romane mehr schreiben. Kollateralschaden ist am Puls der Zeit, ist Literatur, die etwas zu sagen hat, die eine soziale Diagnose stellt. Natürlich ist der Supermarkt ein symbolischer Ort, als Umschlagplatz unserer Warenwelt, in der der menschliche Horizont durch das Regal vermauert ist und die Gretchenfrage lautet: „Entscheide dich endlich (...). Marken- oder Eigenmarkenknödel?"

Es geht in diesem Buch um die Kollateralschäden des Kapitalismus, der Konsumgesellschaft und am Rande auch um einen Wildschaden als Begleitumstand des Straßenverkehrs. All die Verformungen an Leib und Seele sind nicht gewollt, aber gleichwohl verheerend, und sie führen zu einer Deformation der Sprache, der Kommunikation, die bloß noch Verwirrung stiftet und Vorurteile bestätigt. Flor nimmt ihre Figuren ernst und zielt zugleich mit böser Ironie auf dieses Sprechen ab, das den Gebrauch des Menschen begleitet. „Menschenbruch" nennt sie zum Beispiel das menschliche Abfallmaterial im Spital, „Menschenbruch" wie „Mannerbruch", Billigware, Abfall: „Und was geschah eigentlich mit all dem abgesaugten Menschenfett?"

Verdinglichung und Entmündigung

Das Zurückgeworfensein auf den Körper bedeutet zwangsläufig Verdinglichung und Entmündigung: „Diese Annahme einer irgendwie zivilisierten Welt, in der die Körper entsprechend dem Willen ihrer Insassen eingesetzt werden und geschützt sind durch Kleidung, Haltung und Sicherheitsabstände, verdampfte ohne Umstände, sobald man objektiv die Seiten wechselte, zum Körper wurde, an dem gearbeitet werden konnte, und dessen Willen, inzwischen ruhig auf Eis gelegt, keine Rolle mehr spielte."

Vom Fleisch auf dem OP-Tisch gelangt man über das „eigene Fleisch und Blut" zum vorteilhaft rötlich beleuchteten Fleischthekenfleisch: Flors Text ist ein komplexes Patchwork, und alle Nahtstellen sind fein vernäht. Wer die ersten Hürden der Orientierung genommen hat, den hält dieser aufregende Roman gepackt - bis zum Schluss. (Von Daniela Strigl/ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 15./16.11.2008)

 

 

 

Flors Buch belehrt all jene eines Besseren, die meinen, man könne heute keine politischen Romane mehr schreiben.
„Kollateralschaden" ist am Puls der Zeit.