Rachel Unthank & The Winterset: "The Bairns" (Rabble Rouser/Rough Trade/EMI, 2008)

Die Damen (v. li nach re): Becky Unthank (Gesang, Füße), Niopha Keegan (Violine, Gesang), Belinda O'Hooley (Piano, Gesang), Rachel Unthank (Gesang, Cello, Ukulele, Füße)

The kye's come yem but I see not me hinny/I'd rather loss aal the kye than loss me bairn. Sie verstehen nur Bahnhof? Trösten Sie sich, Sie sind nicht allein. Selbstbewusst wie risikoreich beginnt "The Bairns" ("Die Kinder"), das zweite Album von Rachel Unthank & The Winterset, in northumbrischem Zungenschlag. Den des Idioms aus dem Nordosten Englands Unkundigen (also so gut wie allen) bleibt zunächst also einmal bloß Überraschung. Es wird nicht bei dieser einen bleiben.

Die Schwestern Rachel (29) und Becky Unthank (22), das wird schnell klar, sind fest mit ihrer Heimat und deren lokalen Traditionen verbunden. Aus einer Familie von MusikerInnen stammend, war es für sie seit jungen Jahren eine Selbstverständlichkeit in Folkklubs auf der Bühne zu stehen. Ihr Gesang wurde beeinflusst von den oft wenig zimperlichen, lärmigen Shanty-Chören Northumbrias. Auch aus dieser Erfahrung des unbegleiteten Singens kommt wohl die Autorität, mit der die Schwestern vor ihr Publikum treten.  Rachel, die Ältere, klingt hell und jugendlich, während Beckys Stimme ein bisschen an eine Chan Marshall mit Nasen-Polypen erinnert -  und natürlich klingt das ganz entzückend. Wenn sich beide zum Harmoniegesang vereinigen, laufen die Schwestern zur Hochform auf.

Und natürlich beherrschen sie auch das Clogging, die lokale Ausprägung jenes alten Tanzes, bei dem durch Aufschlagen der harten Schuhsohlen auf dem Boden ein perkussiver Rhythmus entsteht. Sein typisches Klickediklack wird in mehreren Songs von The Bairns ziemlich effektvoll eingesetzt.

2004 formierten sich die Unthanks gemeinsam mit der Pianistin Belinda O'Hooley und Niopha Keegan (Fiddle) zu einem Quartett, dem rasch der Ruf exzellenter Live-Performances vorauszueilen begann. Ein Jahr später folgte das Debütalbum "Cruel Sister", das gleich einmal diverse Auszeichungen einheimste.

Dessen hastig innerhalb von bloß zwei Wochen aufgenommener Nachfolger ist schlicht wunderbar. Es dominieren Traditionals - und doch birgt auch die Songauswahl Überraschungen. Den Sea Song des Robert Wyatt würde man denn doch nicht unbedingt auf einem Folkalbum erwarten. Die sehr werkgetreue Version der Unthanks wird dem Vorbild durchaus gerecht und zwischen den jungen Damen und dem großen Alten ist offenbar so etwas wie Freundschaft entstanden. Wyatt erscheint schon einmal auf Konzerten von The Winterset und lobt: "Ich glaube, sie wissen gar nicht, wie gut sie sind."

Wie alle Innovatoren eines Genres - und als solche dürfen die Unthanks durchaus bezeichnet werden - begegnen sie der Tradition ohne Scheu. Schön zu hören etwa auf Blue's Gaen Oot O'the Fashion, wo vier Song-Fragmente flugs zu einer zwischen Melancholie und Witz changierenden Collage des Lebens am River Tyne zusammengemischt werden. Rachel und Becky, Lassies wie aus dem Bilderbuch, stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Da sollte sich keiner täuschen. Die Fähigkeit zur ironischen Distanz macht viel von der umwerfenden Frische aus, die an The Winterset so fasziniert. Sehr treffend, wie ein Kollege formulierte: "Rachel Unthank & The Winterset subvert folk music with love and authority."

Piano spielt die erste Geige

The Bairns trieft aber nicht nur von den Wassern jenes Flusses, dem die Umgegend der Hafenstadt Newcastle ihren Namen verdankt, sondern schmeckt auch nach den salzigen Fluten der See. Sie hat das Leben der Menschen in diesem rauen Land geprägt und ihren Niederschlag im Kanon des lokalen Liedguts gefunden. Sea Songs nehmen also breiten Raum ein - und zwar solche, die die Erfahrungen der auf dem Land zurückbleibenden Frauen aufnehmen: Einsamkeit, Ungewissheit, Angst um den Mann und die Herausforderung, eine Familie alleine durchbringen zu müssen.

Belinda O'Hooley, die zwei Eigenkompositionen beisteuerte, verarbeitet zudem in White Thorn das bittere Schicksal ihrer irischen Urgoßmutter, die 13 ihrer 15 Kinder verlor. Die Pianistin (die die Band inzwischen leider verlassen hat) bringt mit ihrem breiten stilistischen Repertoire jene Dosis Unkonventionalität ein, das dem Winterset-Sound Modernität und Unvorhersehbarkeit verleiht. Im Dialog mit Niopha Keegan arbeiten sich die beiden manchmal in Gefilde vor, die bereits eher im Jazz als im Folk angesiedelt sind. Und so streng der Hintergrund der Songs auch sein mag, Freudlosigkeit strahlt The Bairns doch nie aus. Stattdessen fesselnde, aufregende Anmut.

Aber was soll bei einem Namen wie Unthank auch schiefgehen?  Er könnte direkt Jonathan Strange & Mr. Norrell entsprungen sein, dem phantastischen phantastischen Roman von Susanna Clarke, in dem es - außerordentlich verkürzt - um die Wiederbelebung der englischen Magie im 19. Jahrhundert geht. Zauber wird da mit umwerfender Selbstverständlichkeit in den Alltag integriert, der genauso aus der Musik von The Winterset weht. Wie aus Newcastle Lullaby, einem Wiegenlied mit simplem zweizeiligem Text ein weitgehend improvisiertes Stück von über sechs Minuten Länge und fast sinfonischer Qualität entsteht, ist außerordentlich. Die Atmosphäre spielt vom Heimeligen ins Unheimliche, ganz ähnlich wie in Stücken von Sigur Ros. Öffnet sich hier etwa einer der sagenumwobenen Zugänge in die Anderswelt? Biegt vielleicht gleich der Herr mit Haar wie Distelwolle, die elbische Bekanntschaft des Mr. Norrell, um die Ecke?

Ganz nebenbei gelingt Becky und Rachel auch noch eine vollständige Rehabilitierung des recht übel beleumundeten Geordie. Dem Dialekt aus Newcastle und Umgebung wird gemeinhin nachgesagt, er lasse noch den intelligentesten Menschen als naiven Hohlkopf erscheinen, dem auch sicher noch irgendwo ein Rest schmierigen Moorbodens anhaftet. Denn wenn man sich selbst dabei ertappt, dass sich (mitunter sorgar in aller Öffentlichkeit!) ein seliges Lächeln ins Gesicht geschwindelt hat - passen Sie besonders während des Refrains von Fareweel Regality auf Ihr Pokerface auf! - dann hat das auch mit der freudigen Verblüfftheit zu tun, dass Wörter plötzlich wunderbar anders klingen als erwartet. (Michael Robausch - derStandard.at, 8.12. 2008)