Mitteleleuropas jüdisches Erbe, schreibt Edward Serotta, gehöre "uns allen - Schülern und Erwachsenen, Juden und Nichtjuden, Europäern, Amerikanern und Israelis". Damit umreißt der Gründer und Chef von Centropa Ziel und Zielgruppen seines Geschichtsinstituts. In der Tradition der "oral history" und erweitert um viel visuelles Material sammelt Centropa Zeugnisse der Überlebenden und macht sie digital zugänglich. Mehr als 25.000 Fotos sind neben Filmen und anderen Zeugnissen im Netz gespeichert, "als digitale Brücke zurück in eine Welt, die wir physisch nicht länger besuchen können" (www.centropa.org). In physischer Form liegt immerhin eine Auswahl in Buchform vor, die sich auf Wiener Juden und deren Erinnerungen konzentriert; Serotta firmiert neben Tanja Eckstein und Julia Kaldori als Mitherausgeber der Rückblicke. Wie wir gelebt haben reicht zurück bis in die Monarchie und die teilweise ahnungslose Zwischenkriegszeit, verharrt im Holocaust, geht weiter auf den zahllosen Pfaden, die Überlebende (wieder, erstmals, trotz allem, vorübergehend) nach Wien gebracht haben.

Geschichtliche Tiefe

Der Aufbau des absolut lesenswerten Buches ist so einfach wie zwingend: Die Befragten sprechen über die (abgedruckten) Bilder, zumeist aus ihren Familienalben. Was auf ersten Blick bloß "nette" Szenen sind, gewinnt dadurch geschichtliche Tiefe und teils schreckliche Dimensionen. Mehrere

Essays wiederum umreißen die noch weiteren Rahmen, innerhalb derer solch ein Jahrhundert-Album zu deuten ist. Was trägt ein Unterfangen dieser Art zur Erinnerungskultur bei? Einerseits geht es dort radikal weiter, wo die kürzlich erschienenen Bilder der Festfotografin Margit Dobronyi nicht hin-

reichen. Andererseits reduziert es die Gesten der monumentalen Remembrance-Architektur à la Eisenman in Berlin auf konkrete Narrative, auf Lebenswege und -umwege, denen man sich umso weniger entziehen kann, je länger man

Bilder und Texte verfolgt. Charakteristisch für Wien sind vor allem die Verzweigungen in alle Regionen Osteuropas - insofern zählen wohl auch dessen Nachfolgeländer zu den Zielgruppen des Centropa-Projekts. (Michael Freund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 29./30.11.2008)