War es der Mut aus wachsender Verzweiflung darüber, dass uns im kommenden Jahr nicht nur ein Krisenjahr, sondern ein katastrophaler wirtschaftlicher Rückschlag droht, der Nicolas Sarkozy zur rhetorischen Höchstleistung trieb? Oder sind dem französischen Staatspräsidenten in den sechs turbulenten - nicht unumstrittenen - Monaten seines EU-Vorsitzes europapolitische Flügel gewachsen, die ihn nun zu einer der echten Leitfiguren der Union geprägt haben? Vermutlich gilt beides.

Sein Auftritt und seine Appelle zum Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel jedenfalls haben Eindruck hinterlassen: "Europa ist unsere tägliche Arbeit, es ist nicht Außenpolitik", formulierte er, der sich noch im Wahlkampf 2007 als nationaler, bonapartistischer Führer profiliert hatte. Er redete den zweifelnden europäischen Bürgern eindringlich ins Gewissen mit Sätzen wie: "Wir müssen ehrgeizig sein, an die großen Ziele glauben und etwas wagen. Europa muss existieren. Wir müssen einen starken Willen haben, dürfen nicht naiv sein."

Übersetzt: Europa steht an einem Wendepunkt. Wer jetzt zaudert, nicht gemeinsam handelt, der schadet den Menschen in allen EU-Ländern.

Schließlich bekannte Sarkozy zum Abschied vom EU-Vorsitz sogar: "Ja, es wird mir fehlen, sie werden nichts dagegen haben, wenn ich Europa liebe."

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Franzose nie ganz ohne seine große "Sarko-Medien-Show" und Flitter auskommt, bleiben zwei Fakten. So hat schon lange kein Staatsmann mehr über Europa gesprochen: dass er diese Union liebe, also von Herzen wolle, für sie kämpfen werde. Nur vordergründig betrachtet ist das beinahe unmodern, denkt man an die kleinliche innerösterreichische EU-Wadlbeißerei.

Zweitens: Selten in der jüngeren Geschichte hat man Europas politische Anführer so besorgt gesehen wie bei diesem Europäischen Rat. Auch wenn die Beschlüsse zu Klimaschutz oder Konjunkturhilfe (wie immer in dieser komplexen Gemeinschaft) wegen nationaler Egoismen und Eigenheiten verwässert und abgeschwächt sind, so lässt sich aus der Erklärung der 27 Länderchefs durchaus ablesen: Es geht um die Wurst, um das Fundament Europas. Langsam aber stetig setzt sich bei den Regierungen die Erkenntnis durch, dass einzelne EU-Länder in der modernen Welt wenig sind, die Union im globalen Maßstab nicht nur wegen der aktuellen Krise der USA aber einer der großen Mitspieler. Nicht zufällig hat Kommissionspräsident Barroso den Amerikanern beim Klimaschutz zugerufen: "Yes, you can!" Die USA und die EU müssen gemeinsam vorangehen, um die Weltwirtschaft wieder flottzukriegen, angefangen bei den Banken, bei der Autoindustrie und mehr.

Die Gipfel-Agenda zeigte eindringlich, was der Union politisch bevorsteht: ein Bewährungsjahr 2009, um nicht zu sagen ein Schicksalsjahr. Die Angelpunkte dabei sind die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni und der Plan, dass Irland im Herbst neuerlich über den EU-Vertrag von Lissabon abstimmt. Bei den Wahlen droht ein Durchbruch der EU-feindlichen Protestparteien von ganz links bis ganz rechts, wenn es den Gemäßigten nicht gelingt, Europas Wähler vom Sinn und von der Notwendigkeit der Union zu überzeugen. Eine weitere Schwächung des EU-Integrationsgedankens wäre die Folge. Destruktion statt Konstruktion.

Noch ärger könnte es kommen, wenn der EU-Vertrag von Lissabon in Irland ein zweites Mal scheitert, und damit die latente institutionelle Lähmung der EU-Institutionen nicht gelöst wird. Längst geht es in Europa nicht mehr um szenische Details, sondern um das ganze Stück. Zerfall aus Schwäche und Mutlosigkeit, oder am Ende doch Besinnung und Einigung - das ist die Frage. (Thomas Mayer/DER STANDARD, Printausgabe, 13.12.2008)