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Geheime Forschung hat in den USA eine lange Tradition und militärischen Hintergrund. In Österreich wird diese "Wissenschaftsarbeit" nicht betrieben.

Foto: Marco Di Lauro/Getty Images

Dafür werden Unsummen von Mitteln aufgewendet. Über das geheime Wissen in Europa ist fast nichts bekannt.

90 Prozent eines Eisbergs befinden sich unter der Wasseroberfläche. In diesem Größenverhältnis stehen auch sichtbares und nicht sichtbares, also öffentliches und geheim gehaltenes Wissen in den USA. Peter Galison, Wissenschaftshistoriker an der Harvard University, schätzt, dass im Jahr 2001 die Masse an "klassifizierten" Dokumenten fünf- bis zehnmal größer war als jene, die in Bibliotheken aufgestellt wurde.

Laut der zuständigen US-Behörde, dem Information Security Oversight Office, wurden 2001 33 Millionen "Klassifizierungen" durchgeführt. Galison rechnet mit jeweils zehn Seiten pro Vorgang: Das macht 330 Millionen Seiten geheimer Dokumente. Zum Vergleich: Die mehr als100 Bibliotheken der Harvard University erhalten etwa 220.000 neue Bücher pro Jahr, was lediglich rund 60 Millionen Seiten entspricht.

Ähnliche Größenverhältnisse finden sich beim Personal und bei den Finanzen: In den USA gibt es etwa 500.000 Hochschullehrer – hingegen besitzen etwa vier Millionen Wissenschafter, Ingenieure, Beamte und Militärs "clearance", also besondere Zugangsrechte. Im US-Verteidigungsetat von etwa einer halben Billion (!) US-Dollar werden derzeit etwa 68 Milliarden für Forschung ausgegeben. Der National Science Foundation, zuständig für die Förderung der Grundlagenforschung, standen 2007 gerade einmal sechs Milliarden zur Verfügung.

In diesem riesigen Schattenreich der Wissensproduktion gibt es geheime Konferenzen, geheime Zeitschriften, geheime Forschungseinrichtungen und vermutlich auch geheime Naturgesetze, wie Spötter meinen. Geheime Forschung im großen Stil gibt es in den USA bereits seit dem Manhattan-Project, dem Bau der Atombombe in den 1940er-Jahren. Aber nach den Anschlägen des 11. September wurden nicht mehr nur Wissen über Atomforschung, Flugzeugbau oder Krankheitserreger klassifiziert, sondern auch der Infrastruktur-Bereich wie Dämme und Kraftwerke – also alles, was potenzielles Ziel von Terroristen sein könnte.

Seit 2001 hat die Geheimhaltungspraxis neue Dimensionen erreicht, das unter Verschluss gehaltene Material wächst jährlich um zehn bis 15 Prozent. Ob dies legitimen Sicherheitsinteressen dient oder auch missbraucht wird, um sich jeglicher Rechenschaftspflichten zu entledigen, ist eine schwierige Frage, die Peter Galison im Dokumentarfilm "Secrecy" (2008) thematisiert, den er gemeinsam mit dem Filmemacher Robb Moss gedreht hat.

Desaströse Geheimhaltung

Galison sieht auch große Kommunikationsprobleme unter den Geheimniskrämern: "Jede Abteilung hat eigene Routinen und Standards der Geheimhaltung." Es fehle an klaren Prinzipien der Klassifizierung. Und wenn so hemmungslos klassifiziert wird, drohe das, was wirklich geheimhaltungswürdig ist, aus dem Blickfeld zu verlieren. Möglichst viel zu verbergen kann auch kontraproduktiv sein, wie der desaströse Verlauf zahlreicher Forschungsprojekte im Kalten Krieg gezeigt hat. Unter dem Siegel der Geheimhaltung fehlte es häufig an Kontrolle. Die bekanntesten Rohrkrepierer sind die nie fertigentwickelten Navy-A-12-Tarnkappenbomber und das "tacit rainbow anti-radar missile", die Milliarden an Forschungsgeldern verschlangen.

Das derzeit zentrale Problem, so Galison, sei der Übergang von gedruckter zu elektronischer Information: Wie macht man das Wissen "innerhalb des Zaunes" zugänglich, ohne dass es nach außen dringt?

Woher der Wissenschaftshistoriker all dies weiß? Die USA sind ein Land der Paradoxe. Einerseits gibt es ein riesiges Schattenreich. Andererseits gibt es Gesetze wie den Freedom of Information Act, Einrichtungen wie das private National Security Archive in Washington, das die Herausgabe geheimer Unterlagen etwa zum Vietnamkrieg erzwingt ("declassification") und eine starke Tradition des investigativen Journalismus.

Alles Dinge, die in Europa fehlten, bedauert Galison: "Ich will die Dinge in den USA nicht beschönigen, aber der Fokus auf die Geheimforschung hier hat sicherlich auch dazu gedient, von jener in Europa abzulenken." Diese mag wesentlich kleiner sein, aber es gibt sie. Über das Manhattan Project gebe es dreißig gute Bücher, aber zu den Atomwaffenprogrammen in Großbritannien und Frankreich sind fast überhaupt keine Informationen öffentlich. Die Historiker und die Journalisten ließen die Finger davon. Die drohenden Strafen seien viel drakonischer als in den USA, die Geheimhaltungspolitik viel rigider, so Galison.

Und in Österreich? Hier gebe es keine geheime Forschung, behauptet die Presseabteilung des Verteidigungsministeriums. Dies sei schon aus rechtlichen Gründen unmöglich: Im Haushalt müsse genau aufgeschlüsselt werden, wofür Gelder ausgegeben werden. Für Forschung stünden lediglich 800.000 Euro zur Verfügung, gerade mal 0,03 Prozent des Verteidigungshaushaltes, klagt man in der Abteilung Wissenschaft, Forschung und Entwicklung. Über konkrete Projekte könne er aber keine Auskünfte geben.

Dass europäische Forscher anders als ihre US-Kollegen eher unwillig seien, für das Militär zu arbeiten, kann Starlinger nicht bestätigen: "Viele Wissenschafter kommen auf das Ministerium zu und bieten sich an. Das mag mit der neuen Situation der Universitäten zusammenhängen." Und meint damit die Suche nach Drittmittel für ihre Arbeit. (Oliver Hochadel/DER STANDARD, Printausgabe, 24./25./26.12.2008)