Alles ist in Bewegung. Was Jahrzehnte gegolten hat, wird infrage gestellt: etwa die Annahme, dass das kapitalistische System nach vorhersehbaren Regeln wie Angebot und Nachfrage funktioniert. Jedoch selbst die Drosselung der Ölproduktion führt in diesen Tagen nicht mehr zu dem üblichen Preisanstieg an Märkten, die Senkung der Zinsen auf null nicht mehr zu einem längerwährenden Kursfeuerwerk an Börsen. Dass auch österreichische Banken jenseits der Grenzen agieren, war allen klar: Aber dass Landgemeinden wie Hartberg bei einem US-Börsenguru Geld anlegen und Millionen in der Karibik verzocken, geht über das bisher Vorstellbare hinaus.

Wenn es doch nur um ein paar Millionen, um Gier und Maßlosigkeit ginge. Um die kriminelle Energie weniger, die Regeln missachten und Gesetze umgehen. Aber längst geht es um viel mehr: um das globale Koordinatensystem. Nicht nur der Kapitalismus, der nach dem Zusammenbruch des Kommunismus den ungebremsten Siegeszug anzutreten schien, wird infrage gestellt, sondern gleich das ganze westliche Modell: Die universalen Werte, die bisher der Westen verkörpert und verbreitet hat, erscheinen in weiten Teilen der Welt immer weniger nachahmenswert.

Die neoliberalen Rezepte, die der Internationale Währungsfonds und die Weltbank Staaten der sogenannten Dritten Welt und Schwellenländern verordneten, sind zumeist gescheitert. Die Auswirkungen der Finanzkrise zeigen sich in diesen Ländern, die die Verwerfungen nicht ausgelöst haben, umso drastischer.

Dazu kommt, dass die unilateralen Vorstöße der einzig verbliebenen Supermacht den demokratischen Bestrebungen weltweit einen Schlag versetzt haben. Auch wenn der moralischen Selbstdemontage der USA unter dem neuen Präsidenten Barack Obama Einhalt geboten werden sollte, der Schaden ist nachhaltig. Dass sich just die Amerikaner bisher absentiert haben, wenn es um die Bekämpfung der globalen Erwärmung gegangen ist, und damit die Hauptverursacher die Leidtragenden, insbesondere in ärmeren Ländern, alleingelassen haben, sorgt für zusätzlichen Unmut.

Viele Staatenlenker sehen die Demokratie vom Turbokapitalismus unterhöhlt und von Spezialinteressen unterwandert. Die Folge ist, dass immer mehr Afrikaner und Asiaten autokratische Modelle verfolgen, in Russland wird dies bereits praktiziert.
Der Westen hat nicht mehr die Moral auf seiner Seite. Zentrale Verheißungen unseres Gesellschaftsmodells sind infrage gestellt: dass sich Leistung lohnt oder Sozialsysteme im Alter Absicherung bieten. Wenn sich die Pensionskassen verzockt haben, ist das nicht mehr so - trotz Solidarsystem.

Fragen nach Ethik und Moral werden gestellt. Woran sollen wir glauben, wenn nichts mehr gilt? Wer gibt Antworten? Das Bedürfnis ist da, wie der Boom an Selbstfindungsliteratur wie Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg" zeigt. Oder der Erfolg für "Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen" des Münchner Bischofs Reinhard Marx.

Es ist kein Wunder, dass in Zeiten wie diesen sich Menschen gerade von Kirchenvertretern Antworten erwarten. Das Vertrauen in Politiker ist nicht gerade ausgeprägt. Wenn aber Papst Benedikt XVI. zu Weihnachten den Kampf gegen Homosexualität als zentrale Herausforderung predigt und auf eine Stufe mit dem Klimawandel stellt, dann ist es kein Wunder, wenn die Kirche für immer mehr Gläubige an Bedeutung verliert, wie die Standard-Umfrage zeigt. Gerade wenn das Gefühl der Unsicherheit wächst, steigt auch das Bedürfnis nach Orientierung, nach Werten. Das wäre eine Chance für den Humanismus und die Kirche, wieder gehört zu werden. (Alexandra Föderl-Schmid, DER STANDARD, Printausgabe, 24./25./26.12.2008)