Wer mit 55 debütiert, der ist zweifellos eher spät dran. Man erwartet von ihm wohl authentische Bekenntnisse zwischen Prostata und Potenzpathos. Der Oberösterreicher Klemens Renoldner, Dramaturg, Germanist und Kulturdiplomat, erfüllt solche Erwartungen nicht: Er hat tatsächlich etwas zu sagen. "Vergiß nicht, dies sind die Jahre/Wo es nicht gilt zu siegen, sondern/Die Niederlagen zu erfechten."

Darin wenigstens ist Renoldners Personal ziemlich erfolgreich. Die arbeitslose Biologin zum Beispiel, die jahrelang einen labilen jungen Mann protegiert, ihm beruflich immer wieder auf die Beine geholfen hat: Jetzt arbeitet er bei Nestlé in Basel, verspricht ihr eine Stelle - und geht plötzlich auf Tauchstation. Oder der Berliner Top-Journalist Fritz, ein Prediger der Freundschaft, der nicht verwinden kann, dass man ihm bei der Besetzung einer Medien-Professur in Wien ein Leichtgewicht vorgezogen hat, und noch weniger, dass ein Freund das "sehr in Ordnung" findet.

Und auch die Protagonistin der etwas zu effektvollen Titelgeschichte muss eine Niederlage einstecken. Der Titel zitiert Paul Auster: "Man schließt nur kurz die Augen, dreht sich um (...), und was eben noch vor einem stand, ist plötzlich weg." Weg war für die Schauspielerin Katharina vor elf Jahren ihr Mann Oliver, abgestürzt von der Trisselwand, die Schwiegereltern verdächtigten sie, sie musste einen Prozess überstehen, ging mit ihrer kleinen Tochter nach Hamburg. Als sie ans Burgtheater zurückkehrt, holt die Geschichte sie ein. Das Kernstück des Buches, die komplexe, gut sechzig Seiten lange Erzählung "Der Roman unserer Generation" , handelt von der Unmöglichkeit, einen solchen zu schreiben. Dem TV-Journalisten André Polonsky gelingt es nicht einmal, in Paris die Recherche für einen Film über einen nach dem Krieg in Angers ermordeten Wehrmachtssoldaten abzuschließen.

Renoldner kennt die Milieus, die Örtlichkeiten der Städte, die er in den formal disparaten Geschichten beschreibt, aufs Genaueste, an seinen Figuren entgeht ihm nichts. Ihn fasziniert eben jener Sturz aus dem Gewohnten, das Kippen der Gefühle, das Entgleisen der Mimik. Zum Beispiel im Janusgesicht der Sängerin Josefine, die in der waghalsig zwischen Traunsee und Genfersee gespannten Erzählung "Temporary not available" ohne jede Peinlichkeit einen Pas de deux mit Kafkas Sängerin Josefine absolviert. Der Autor hat keine Scheu vor organischer Unordnung und Verzweigung, die thomasmannhaften Erörterungen etwa zum Wesen der Musik hätten freilich eine Kürzung vertragen. Auch hätte man dem Buch bei mancher sprachlichen Unbeholfenheit einen strengeren Lektor gewünscht.

Ein leiser Humor hellt die düstere Grundierung immer wieder auf. Der Erzähler lässt in der Schwebe, was er für die Wahrheit seiner Figuren hält - und hat eine Hand für Schlüsse: Da sehnen sich die Helden nach Schlaf, einem ewigen gar, schauen aus dem Fenster (gern auf Tiere), sind wie die Leser ratlos, niemals verdammt zur Pointe. Am Ende einer modernen Odysseus-Nausikaa-Episode heißt es: "So schließt diese Geschichte, die doch eigentlich ein mythisches Ende finden sollte, ohne Beistand der Götter." So spielt das Leben, und Klemens Renoldner ist ihm dicht auf den Fersen. (Daniela Strigl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 03./04.01.2009)


Klemens Renoldner "Man schließt nur kurz die Augen". Erzählungen. € 19,50 / 166 Seiten. Folio, Wien/Bozen 2008