Auf Augenhöhe mit seinen Schülern: Der Lehrer François (François Bégaudeau) in Laurent Cantets packendem Schuldrama "Die Klasse".

 

 

Foto: Polyfilm

In Cannes erhielt er dafür die Goldene Palme.


Wien - Muss man das Wort "Österreicher" wirklich kennen, wo dieses Land doch eigentlich recht klein ist? Welches Verb außer "stinken" fällt einem zu Cheeseburgern noch ein? Könnte der Lehrer bei seinen Beispielen nicht auch einmal andere Namen als immer diese "weißen" wie Bill verwenden - afrikanische wie Souleymane oder Khoumba? In der Schulklasse im 20. Pariser Arrondissement steht nichts weniger als die Sprache selbst zur Diskussion - die Differenz zwischen ihrem normierten Gebrauch im Unterricht und jenem im Alltag und im Selbstverständnis der Schüler.

Die Klasse - im französischen Original Entre les murs, was auf den geschlossenen Schauplatz des Films verweist - ist ein eindrückliches Beispiel für eine multiethnische Gesellschaft: Kinder von Einwanderern aus Ländern wie China, Marokko, der Elfenbeinküste oder Mali besuchen sie. Den Französischunterricht ihres Lehrers verwandeln sie in einen Verhandlungsraum. Anschauungsmaterial für zeitgenössische Debatten um Integration, Identität oder eine angemessene Repräsentationspolitik werden hier wie in einer Fabrik am laufenden Band produziert.

Das mag akademisch klingen, ist es aber keine Sekunde lang: Schule, das ist in Laurent Cantets in Cannes mit der Goldenen Palme prämiertem Film ein ungemein lebendiger Organismus, voller überraschender Gesten der Zuwendung und Aggression. Ein System, das ständig an seine Grenzen stößt, um dann doch wieder eine pragmatische Lösung herbeizuführen. Zwischen Schülern, Lehrern und Elternteilen herrscht ständig Klärungsbedarf: Wie weit die Toleranz reicht, worauf Autorität bestehen soll oder wann der Bogen überspannt ist, das lässt sich nicht in ein paar Sätzen klären.

Im Klassenlehrer François, gespielt von François Bégaudeau - zugleich Autor der Romanvorlage und Profi im Unterrichten -, laufen die Linien zusammen. Er gleicht weder dem antiautoritären Verführer aus dem Club der toten Dichter, noch dem väterlichen Behüter aus Nicolas Philiberts Dokumentarfilm Sein und Haben. Vielmehr begibt sich dieser Pädagoge mit seinen Schülern auf Augenhöhe, er kann einmal kumpelhafter, einmal energischer sein - ganz so, wie es ihm die Situation abverlangt. Entscheidend aber ist: François bleibt nicht unfehlbar.

Schwierige Balance

Souleymane (Franck Keïta), ein besonders renitenter Schüler, bringt das prekäre Gleichgewicht in der Klasse schließlich ins Kippen. Er verliert die Beherrschung und verlässt voll Zorn den Unterricht. Mit dem Vorfall setzt er einen Mechanismus in Gang, der zumeist im Schulverweis endet. Cantet macht indirekt klar, dass eine solche Entscheidung auch einem Versagen der Schule gleichkommt. Die Positionen sind in Die Klasse niemals starr. Es gilt, sie ständig neu zu hinterfragen. Wie ließen sich sonst Korrekturen und Anpassungen durchführen? Trotz der Direktheit des Films - viele Szenen wurden simultan mit drei Kameras gedreht -, gibt es keine simplen Parteinahmen und Schuldzuweisungen. Die Schule ist ein offener Raum, in den auch der soziale Hintergrund eindringt. Nicht nur bei Krisen muss dieser mitberücksichtigt werden.

Die Transparenz ist nicht zuletzt das Ergebnis einer Ästhetik, die dokumentarische Verfahren für den Spielfilm nützt - neben Matteo Garrones Camorra-Epos Gomorrha steht Die Klasse so auch für eine neue Form von Verdichtung von filmischer Realität. Am Ende sagt ein Mädchen zu François, sie habe ein ganzes Jahr nichts gelernt. Als Zuschauer dieses beeindruckenden Films sieht die Sache ganz anders aus. (Dominik Kamalzadeh / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.1.2009)