"Eine der kleinen Tonfiguren aus der Sui-Dynastie trägt zweifelsohne einen Pullunder." Tilman Rammstedt erfindet China.

 

 

Foto: Eggenberger

Wien - Der Mann mag zwar so aussehen, als könne er höchstens sein eigenes Badewasser trüben, aber: faustdick! Der 1975 im Mittelklasseort Bielefeld geborene Autor Tilman Rammstedt heimste für eine öffentliche Lesung aus seinem jetzt vorliegenden Roman Der Kaiser von China 2008 in Klagenfurt den Bachmann-Preis ein.

Erstmals in der Geschichte dieses über die Jahre durchaus etwas schmalbrüstig gewordenen Wettbewerbs waren sich Publikum und Jury über die Güte des Textes einig. Kein Wunder, ortete die Frankfurter Allgemeine Zeitung doch schon vor Erscheinen des mit knappen 192 Seiten auf alle Fälle lesefreundlichen Buches im Kölner Dumont-Verlag einen in ihrer Welt einzigartigen Zusammenprall der Kulturen: "Zum Bersten komisch und zugleich hochliterarisch!"

Was ist geschehen?! Nach einem etwas zähen Beginn, der sich einer gestelzten, ja, gepölzten Konstruktion des Plots verdankt, erleben wir spätestens an der Kippe zum Zuklappen nach 30 Seiten einen der wunderbarsten Flunkerer, den die deutsche Literatur seit Eugen Egner (Der Universums-Stulp, Tagebuch eines Trinkers) willkommen geheißen hat.

Zum Geburtstag eines sich schön langsam auf das Sterben verlegen wollenden 80-jährigen Großvaters schenken ihm seine fünf Enkel die Erfüllung eines Lebenstraums. Bevor er abnippelt, will Opa nach China. Und Protagonist Keith Stapperpfennig (wer denkt sich solche Namen aus?!) zieht die Arschkarte. Er muss als prekär minderbeschäftigter Benjamin im auseinanderfallenen Familienverbund mit.

Lügen unter dem Tisch

Blöd nur, dass sich der erotomanisch hochbegabte Opa unmittelbar vor Reiseantritt in den Westerwald absetzt - wo er sich dann nach der Versendung einiger nur halbherzig gefälschter Ansichtskarten aus China in einen letalen Herzinfarkt flüchtet. Was sich als gut erweist. Immerhin hat Keith das von der Familie gespendete Reisegeld schon im Vorhinein verprasst.

Deshalb versteckt sich unser Held dann während der nächsten Wochen auch in seiner Wohnung unter einem vom Fenster aus nicht einsehbaren Tisch, hebt das Telefon nicht ab, bemerkt mit Entsetzen seine Geschwister, wenn sie an die Tür klopfen, und blättert im Lonely-Planet-Reiseführer, Ausgabe China. In Briefen an die in Deutschland gebliebenen Geschwister erfindet er sich das Reich der Mitte aus seinem Bauchweh heraus neu. Warum denn fliegen, wenn man ein Museum auf der anderen Seite der Welt auch googeln und hochsexen kann:

"Luoyang, den 20. Mai. Es ist immer wieder überraschend, welche Dinge in China viel früher bekannt waren als bei uns, eines der Wandgemälde zeigte äußerst detailliert ein Polospiel, in einer Art Broschüre aus der Tang-Zeit finden sich auf feinem Seidenpapier Abbildungen einer, allerdings noch recht rudimentären, Schönheitsoperation, und eine der kleinen Tonfiguren aus der Sui-Dynastie trägt zweifelsohne einen Pullunder."

Parallel dazu erinnert sich dann auch der Großvater an bessere Zeiten und belügt den Enkel mit Schnurren aus Jugendzeiten nach Strich und Faden. Oder deliriert sich dann doch nur der Enkel an seiner Stelle für die Liebsten zu Hause in einen Fabulierrausch, der Asiens dickste und stärkste Frau der Welt zur Gewichtstemm- und Hochseil-Attraktion auf deutschen Jahrmärkten der Nachkriegsjahre und den Großvater zu einem sehr glücklichen jungen Mann machte?

Opas letzte, klischeeverdächtig junge Geliebte wird von Keith am Krankenbett des alten Mannes dann übrigens tatsächlich heimlich beglückt, während Opa den Schlaf der Entrechteten schnarcht. Ein etwas unrunder als die Reiseberichte aus China formuliertes Fallen in die Liebe ist die Folge.

Tilman Rammstedt ist in einem anderen Brotberuf auch Sänger der etwas gestelzt im deutschen Chansonfach reimenden Literatenband Fön. Anders als in der besonders wertvollen Musik fabuliert er im Kaiser von China wagemutig im leeren Raum. Alles auf die Null! Oben beim Seiltanzen über Länder, die wir nur lesend erobern können, ist die Luft dünn. Und Witze brauchen langen Atem.

Rammstedt gelingt in der fiktiven Annäherung an einen hassgeliebten Großvater der berührende Entwurf eines Katastrophenszenarios. Dieses titelt "Generationenvertrag". Großvater blüht in "China" auf, während der Enkel spießig verhärmt. Warum dem Großvater nach der dicken Frau ein Arm fehlt und der Tod ein Skandal ist, den selbst die seriell-monogame Liebe nicht mildern kann, wird übrigens zum Weinen schön auch erläutert.

Manchmal ist mehr einfach mehr. Wie heißt es bei Jim Knopf: "China-Hauptbahnhof, alles aussteigen! Wir haben hier einen längeren Aufenthalt." (Christian Schachinger / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.1.2009)