Tobias Moorstedt, geboren 1977, lebt als Autor und Journalist in München und New York. Er studierte Soziologie, Politik-wissenschaften und Literatur. Für sein Buch "Jeffersons Erben. Wie die digitalen Medien die Politik verändern" (Suhrkamp Verlag) war er während des Wahlkampfes ein Jahr lang quer durch die USA unterwegs.

 

 

Foto: Moorstedt

"Wo soll es denn nun hingehen, Brother?" , fragt der Taxifahrer, der laut Lizenz vor langer Zeit aus dem Senegal nach Texas gekommen war. Ich blicke aus der Fensterscheibe - 16 Spuren, 40 Miles per Hour - und sehe das Wolkenkratzermassiv von Downtown Houston hinter dem Asphalthorizont langsam verschwinden. Ich sage: "Bringen Sie mich in eine richtige Stadt. Bringen Sie mich dorthin, wo Menschen das tun, was sie gerne tun: Shoppen, essen, andere Menschen sehen."

Der Termin in der Innenstadt hatte, so ergiebig sich die Gespräche gestalteten, schließlich in einem urbanen Horrortrip geendet; das recht banale Vorhaben, eine Zeitung und eine Wasserflasche zu erstehen, ist daran gescheitert, dass Bars und Kioske in Downtown Houston nicht existieren. Heruntergelassene Rollläden und dunkles Fensterglas machen die Bürotürme zu uneinnehmbaren Monolithen - selbst die Kreditkarte garantiert hier keine Interaktion. Feierabend bedeutet hier Postapokalypse. Jeden Tag endet die Welt.

Der Taxifahrer setzt mich in einer Open Sky Mall aus, einem Bungalow-Cluster aus Pappmaché und Sperrholz, in dem Blockbuster, Best Buy und Burger King mit Sonderangeboten und All-you-can-eat-Programmen den Body-Mass-Index und die Kleidungsgrößen der Konsumenten in einer ewigen Aufwärtsspirale wachsen lassen. Eine Neoninsel inmitten von Verkehrsströmen. So unterschiedlich sind Vorstellungen von einer richtigen Stadt, vom normalen Leben, denke ich mir, und möchte in einem Diner ein paar Hähnchenflügel essen, bekomme aber leider keinen Platz. Ich bestelle ein Heineken an der Bar. "Where do you come from, honey" , fragt die Kellnerin. Ich antworte: "Von weit her."

Endloser Beton

Die Tatsache, dass ich keine Akkreditierung für den Wahlkampfbus von Barack Obama bekommen hatte, stellte sich im Herbst 2008 als Vorteil heraus. Die Kollegen waren zwar mit einem All-inclusive-Paket mit dem Kandidaten im Charterflugzeug unterwegs. Wer nicht "on the bus" war, bekam auf der Amerika-Tour in Zug und Greyhound-Bus automatisch einen Reality-Check. Die Wahlkampfthemen - Infrastruktur (Der Hauptbahnhof von Houston ist eine Bushaltestelle), Finanzkrise (die For-Sale-Schilder wachsen wie Pilze in den Vorgärten der Vorstädte) und allgemeine Krankenversicherung (Bitte was?) - erlebte ich so abseits des Teleprompters, in freier Wildbahn sozusagen.

Houston erscheint mir als endloser Beton, in dem Nachbarschaften von Highways durchschnitten werden, als eine Gesellschaft ohne Gemeinschaft, als Stadt, in der es nicht einmal Bürgersteige gibt, in der die Menschen allein in Pkws zirkulieren. Ich hatte an diesem Abend wenig Hoffnung für die westliche Zivilisation und beschloss, mir eine Regenjacke zu kaufen. Die Verkäuferin im Kleidungsladen "The Gap" trägt einen Obama-Button an der Jeansjacke. Ich lasse, sozial ausgehungert wie ich bin, eine Bemerkung fallen, dass ich tags zuvor eine Rede von ihm im Sportstadion gesehen hätte. Die Verkäuferin, Taneesha steht auf dem Namensschild, erzählt, dass sie selbst ebenfalls dort gewesen sei: "Ich musste aber früher gehen, weil ich nachts in einer Bar arbeite" . Dann sagt sie in geschäftsmäßigem Ton: "Morgen geht unsere Kampagnenarbeit weiter."

Taneesha, 32 Jahre, alleinerziehende Mutter, hat 2008 einen dritten Job angenommen und arbeitet unentgeltlich als Bezirkschefin für den Wahlkampf von Barack Obama: "Dafür braucht man nur einen Computer" , sagt sie. Die Protagonisten des US-Wahljahres sind 2008 nicht die politisch aktiven Hollywoodstars, nicht die PR-Genies, nicht die Kandidaten, nicht einmal Obama selbst. Der Star ist die Mannschaft. "Es ist wunderbar" , sagt Taneesha, "man trifft im Netz Menschen, die nur 500 Meter entfernt wohnen. Wo hätte man die früher treffen sollen?"
Die virtuellen Kommunikationsströme legen sich wie eine zweite Infrastruktur über die reale Stadt, die Datenhighways verbinden, was die Asphaltpiste trennt. Das Politiknetz ist aufregender als der routinierte Wahlkampf in der Realität. In dieser virtuellen Stadt leben Programmierer, Blogger und Aktivisten - vor allem aber "normale" Bürger. Die setzen sich am Feierabend vor den Computer, um - unabhängig von irgendeinem Hauptquartier - Aktionsbündnisse und Ortsgruppen zu bilden, die gemeinsam einen Weblog schreiben, der innerhalb kurzer Zeit die Dimension einer kleinen Tageszeitung erreicht. Oder sie produzieren mit der Software Final Cut Pro einen Wahlspot, den dann auf YouTube ein paar Millionen Menschen aufrufen. Es ist schwierig, sich von der atemlosen Dynamik des Mediums nicht anstecken zu lassen.

Ich fahre im Zug von Texas zurück an die Ostküste. Im Fenster die großen Landschaften des Westens, die Prärie, das Mississippi-Tal, der Mittlere Westen. Der Zug hält nur drei- oder viermal am Tag an kleinen Bahnhöfen. Das Eisenbahnsystem der USA atmet auch im 21. Jahrhundert noch den Geist einer Zeit, in der die Dampflokomotive die weit voneinander entfernten Siedlungen miteinander verband und einen Kontinent zu einer Nation machte. Die Reise dauert länger als zwei Tage.

Ich lese ein Buch über Robert F. Kennedy. Barack Obama wird oft mit JFK verglichen, aber mich erinnert der Wahlkampf, die Rhetorik, der Kontext eher an 1968. Auch damals steckte Amerika in einem teuren, blutigen und unpopulären Krieg, Rassenunruhen und soziale Probleme drohten die Gesellschaft zu spalten, und ein junger Kandidat stellte sich gegen das Establishment der eigenen Partei und versprach den Wählern "ein neues Amerika" . Robert F. Kennedy propagierte den Abzug aus Vietnam und eine Erneuerung des Landes. Zu seinem ersten Wahlkampfauftritt auf dem Campus der Universität Kansas kamen 19.000 Menschen. Er sprach: "Our country is in danger: not just from foreign enemies; but above all, from our own misguided policies (...) we are going to decide what this country will stand for - and what kind of men we are." Es sind wir, die entscheiden, welche Art Menschen wir sein wollen. Warum gibt es in Europa keine Politiker, die einen solchen Sound erzeugen? Warum würden wir unser sozialdemokratisch-christlichkonservatives Standardpersonal schon auslachen, wenn sie es nur versuchen würden?

Ich denke an meine Freunde in New York und Washington, die im Herbst 2008 zum ersten Mal dieses uramerikanische Diskursimmunsystem aktiviert haben, das sie für Zynismus unangreifbar macht, und die in ihrer Freizeit nach Pennsylvania gefahren sind, um dort Wähler zu mobilisieren. Ich denke an den Buchladen Barnes&Nobles an der 8. Straße, in dem für einen Moment in der postmodernen Literaturgeschichte einmal nicht Harry Potter auf dem VIP-Verkaufstisch liegt, sondern ein paar Dutzend politische Streitschriften. Ich denke an Winston Churchill, der einmal gesagt hat, dass die Amerikaner schon das Richtige tun werden - wenn sie alle anderen Optionen ausgeschöpft haben.

Politik konsumiert man nicht mehr wie ein Football-Spiel, stumm vor dem Fernseher, sondern tippend auf dem Laptop. Das Internet generiert das Gefühl, jeder Mensch könne nicht nur seine eigene Welt erschaffen, sondern die ganze Welt verändern. Die Internet-Ideologie ist hochkompatibel mit Werten wie Tatkraft, Optimismus und Individualismus, also genau den Eigenschaften, die schon Alexis de Tocqueville in seinem Buch Demokratie in Amerika als typisch für die Bewohner Neuenglands notierte. Tocqueville war bei seinen Reisen durch die Vereinigten Staaten beeindruckt von der "praktischen Vernunft" und "erlebten Freiheit" der amerikanischen Bürger, die sie in "freien Handlungsbereichen" wie Geschworenengerichten und der kommunalen Verwaltung auslebten. Und fast scheint es so, als würde das Internet Aspekte der amerikanischen Kultur freilegen und zum Schwingen bringen, die lange Zeit verschüttet waren. Es ist eben eine uramerikanische Idee: "Just do it!" Oder: "I do it my way" . Und passt "Yes we can" nicht wunderbar in diese Reihe?

In Washington und New York tragen die Menschen auch 2009 Buttons mit der Aufschrift: Yes we did. Es wirkt so, als wollten sie die Kampagne, die selten gefühlte Realität des kollektiven Wünschens und Handelns weiter festhalten. In D. C. hat sich wenig verändert. Es herrscht Hauptstadtatmosphäre: Selbstbewusste Männer in dunklen Anzügen sitzen in der National Mall auf den Holzbänken und reden mit präzisen Gesten, Handkantenschlägen und Zeigefingern, aufeinander ein. Polizisten und die Nationalgarde bewachen Straßensperren und Zugangswege. Schulklassen laufen aufgeregt zwischen Monumenten und Ministerien hindurch, über der Postkartenszenerie flattern rot-weiß-blaue Fahnen im frischen Wind. Ich halte ein Taxi an. "Wo soll es denn hingehen, Brother" , fragt der Fahrer, der laut seiner Lizenz vor langer Zeit aus Äthiopien nach Virginia kam. Ich sage: "Fahren Sie einfach los." (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17./18.1.2009)