Catalin Dorian Florescu
Der kurze Weg nach Hause

€ 20,20,-/244 S.
Pendo, Zürich 2002.

Foto: Buchcover

Muss man wissen, wieso es einen an die Orte seiner Kindheit zurückzieht? Muss man gute Gründe haben, um Entscheidungen zu treffen? Dem Erzähler von Der kurze Weg nach Hause, Roman von Catalin Dorian Florescu, Schweizer mit rumänischer Vergangenheit, geboren 1967, sind solche Fragestellungen gleichgültig. Der ziemlich lange Weg von Zürich nach Timi¸soara, der als kurzer und schmerzloser geplant war, führt den Erzähler im Jahr 1992 auf den Spuren seines italienischen Freundes Luca über zwei Zwischenstationen, nämlich Wien (Sexlokale am Gürtel, das "Kent" in der Brunnengasse und eine "Pension Votiv") und Budapest (Liebesaffäre mit einer Zsófia, die viel Paprikas kocht und wenig spricht).

Das Hängenbleiben als Lebensform haben Florescus Helden perfektioniert. In Budapest lassen die beiden ihre beklemmenden Hängenbleib-Episoden hinter sich, um in Rumänien die Tante des Erzählers zu besuchen - und den Onkel, der als lebende Leiche mit einem Blutgerinnsel im Gehirn in der Wohnung liegt. Dabei erfahren sie viel über die rumänische Revolution, viel über die Denkweise der Menschen, und sie investieren all ihre Geisteskraft, um möglichst wenig über sich selbst erfahren zu müssen.

Der Zynismus des Alltags, ganz normaler Umgangston in Florescus großartigem Debüt Wunderzeit (2001, Pendo Verlag), wird im neuen Buch geradezu als Charakteristikum für jene Ost-Gesellschaften herausgearbeitet, die sich mit dem offiziellen Paradigmenwechsel erstaunlich leicht getan haben. Niemand kann einen arabischen Forint-Wechsler in der Budapester Altstadt so präzise beschreiben wie Florescu. Oder einen Mann, der in der Nacht streunende Hunde filmt, damit er "was in der Hand hat" gegen den Bürgermeister, der "nichts tut".

Oder die Ärzte im Realsozialismus, die durch ihre Bestechungsgeschenke aussehen "wie verkleidete Metzger, Gemüsehändler und Kosmetikavertreter". Ohne viel Mühe fängt er den Verfall der alten depressiven Werte samt müdem Sieg des deprimierenden Kapitalismus ein: "An vielen Orten verfiel die Stadt, an anderen erneuerte sie sich. Es gab Lärm und Stille und ruhige Viertel und Neonlichter und dunkle Gassen. Die sozialistische Bescherung war bereits weggewischt." Der Osten, so lernt man, ist ein Weltteil, dem der Glaube abhanden gekommen ist; was die Menschen nicht daran hindert, an andere Götter zu glauben - so behauptet jemand, seine Cousine arbeite in der Schweiz, "in einem teuren Hotel, sieben Sterne".

Nein, das Buch ist keine Anekdotensammlung (nur diese Buchbesprechung droht eine zu werden, wenn sie sich weiterhin an die schönsten Stellen des Textes klammert), sondern ein gut gebautes Roadmovie, das Spritzigkeit und Elan unter anderem auch aus dem Phlegma des Erzählers bezieht, eines harmlosen Machos, der sich niemals in die Karten schauen lässt und der es hasst, sich festzulegen. Freund Luca, ein Mann, der seelenruhig im Bett seiner neuen Freundin liegen bleibt, wenn der Ex von außen mit den Schuhen gegen die Wohnungstür tritt, ist da wohl ein Seelenverwandter, nur noch radikaler. Denn Luca verweigert sein Innerstes dem Erzähler, und der ist oftmals selbst verwundert, wieso er das akzeptiert.

Außergewöhnlich an diesem Buch ist zudem, dass der Autor charmante Sätze schreiben kann, die in einem anderen Kontext repetitiv oder unbeholfen klingen würden: "Die Mutter ist nicht fett, doch ihre Schwangerschaft und das fettige Essen haben Spuren hinterlassen." Manchmal illustriert erst eine Verdoppelung, etwa des Wortes "noch", eine schlampige große Geste; so etwa in der Beschreibung der rumänischen Schwarzmeerküste: "Wir stehen hier noch in Europa, aber nur noch so ungefähr." Wirklich schön wird es, wenn Florescu Sätze gelingen, die jemand mit Deutsch als Muttersprache nie so sagen könnte. Zum Beispiel der über den Balaton: "Ganz Ungarn war da, Deutsche, Italiener, Österreicher, alte Männer auf der Suche nach jungen Frauen, und junge Männer mit demselben Zweck gab es auch."

Der Leser wird von diesem ausdrucksstarken Text zu Vergleichen verleitet. Man könnte es ungefähr so sagen: Wenn Catalin Dorian Florescu erzählt, dann blühen die Seiten. In Der kurze Weg nach Hause geht es überhaupt nicht um den (sorgfältig gearbeiteten) Plot, sondern um jenes östliche Lebensgefühl, das mit Glück, Melancholie und dem leisen Schmerz der Vergänglichkeit zu tun hat. Auch mit Geld: "Auch der Koch und der Taxifahrer (. . .) wollten D-Mark. Der alte Mann, dem das Zimmer gehörte, sowieso. Sie wollten alle ihre Forint schnell loswerden, als ob sie die Flöhe hätten." (DER STANDARD, ALBUM, Printausgabe vom 8./9.3.2003)