"Das Unfassbare ist die Diskrepanz zwischen der Erinnerung des Einzelnen und dem, was an historischen Fakten in den Geschichtsbüchern stehen wird." Die Literatur ist naturgemäß für das Erstere zuständig, für die unzuverlässige Quelle. Wir würden, meint Andrea Grills Erzählerin, Geschichtsschreibung nur deshalb so wichtig nehmen, "weil wir uns kaum merken können, was wir am vergangenen Montag gemacht haben". Mit "Tränenlachen" arbeitet die Autorin diesem privaten Gedächtnisverlust entgegen und trägt zugleich etwas zum kollektiven Geschichtsbewusstsein bei: Es geht um das von der plötzlichen Freiheit der (süd-)östlichen Nachbarn überrumpelte Österreich der frühen Neunzigerjahre und um eine Liebesgeschichte zwischen einem jungen albanischen Flüchtling und einer sehr jungen Einheimischen.

Die Sache ist längst vorbei, als er, Galip, sich eines Nachts im Jahr 2007 bei ihr telefonisch meldet. Weder nüchtern noch schüchtern wünscht er sich, sie möge ihm schreiben. So leistet die Icherzählerin, die als Meeresbiologin durch Europa gondelt, Entwicklungshilfe bei der Erinnerungsarbeit: "Ich erzähle dir dein Leben, soweit ich es kenne, als würdest du dich selber nicht kennen." Dabei erzählt sie ihm und sich natürlich auch ihr eigenes Leben - als würde sie sich selber nicht kennen.

Es ist die schöne Geschichte einer unerschrockenen Liebe, aber auch die Geschichte von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen: "Damals fürchtete ich mich vor fast nichts, außer dem Zahnarzt, jetzt fürchte ich ab und zu fast alles, außer dem Zahnarzt." Auch Galip bekommt seine Stimme zugewiesen in diesem Dialog. Er, dessen Großvater Wienerisch spricht und in albanischen Gefängnissen gefoltert wurde, wird in Österreich nicht heimisch. Die Heirat mit der Erzählerin beschert ihm die Staatsbürgerschaft und den Präsenzdienst - an jener Grenze, über die er einst als Flüchtling kam. In einer bald latent, bald offen aggressiven Umgebung stößt auch die Beziehung an ihre Grenzen. Die Scheidung gerät feierlicher als die Hochzeit.

Staunen übereinander

Im zweiten Teil des Romans wechselt die Erzählhaltung von der Anrede eines Du zum Reisebericht in der Gegenwart, auch grammatikalisch. Galips Mutter hat die Erzählerin gebeten, nach Tirana zu kommen - ihr Sohn sei verschwunden. Die Fahrt ins düstere Märchenland der Skipetaren bringt Ernüchterung und Schrecken: Ein Toter muss identifiziert werden.

So ambitioniert die Form des Textes ist, so mühelos gruppiert sich für den Leser Steinchen um Steinchen zum leuchtend farbigen, kontrastreichen Mosaik: zwei Menschen, die übereinander staunen und einander irgendwann satt haben, zwei Länder, die nicht unter dasselbe Dach Europa zu passen scheinen und einander doch in manchem - nicht nur der Präpotenz der Polizei - ähneln. Der lockere Plauderton deutet darauf hin, dass es hier nicht um sprachliche Originalität geht, sondern um gedankliche. Es ist eine alte Geschichte von den zwei Königskindern, die zusammen nicht kommen konnten ("das Wasser war viel zu tief" ), aber nichts von dem, was hier erzählt und räsoniert wird, ist vorgefunden oder nachempfunden.

Man kann Tränen lachen - und man kann unter Tränen lachen, einmal überwiegt das Heitere, einmal das Traurige. Andrea Grills Roman wechselt zwischen den Gemütslagen wie weiland der Pfarrer Kneipp zwischen Heiß und Kalt: beherzt und ohne falsche Dramatik. (Daniela Strigl, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.09.2008)