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Freunde und Nachbarn von Mohammed Azharuddin Ismail, der im Film den Slum-Buben Jamal spielt, während der Übertragung der Oscar-Gala in ihrem Viertel in Mumbai.

Foto: EPA

Der Film rückt Mumbais Armenviertel Dharavi, den größten Slum Asiens, ins Rampenlicht.

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Selbst Amitabh Bachchan zeigte sich versöhnt. "Dies ist ein großer Tag für Indiens Kino und Talent" , freute sich Indiens Filmlegende. Noch vor kurzem hatte der 66-Jährige ganz anders geklungen.

Der Film "Slumdog Millionär " verunglimpfe Indien als schmutzigen Dritte-Welt-Staat und verletze die Nationalehre, wetterte der Star, der früher Moderator der indischen Version von "Wer wird Millionär" war. Doch nichts ist mächtiger als Erfolg. Auch in Indien. Und Bachchan hat seine Kritik längst zurückgenommen.

Gleich acht Oscars hat das Märchen vom Slum-Jungen Jamal, der vom Teeträger zum Millionär aufsteigt und seine Kindheitsliebe aus der Prostitution rettet, abgesahnt. Und Indien überschlug sich am Montag beinahe vor Stolz und heftete sich den Erfolg an die eigene Brust. Vergessen scheint, dass nicht Inder, sondern Briten für Regie, Drehbuch und Kamera verantwortlich zeichnen. "Indien auf dem roten Teppich" und "Der Oscar-Abend gehörte Indien" titelten Fernsehsender und Medien.

Regierungschef Manmohan Singh und Präsidentin Pratibha Patil gratulierten dem Slumdog-Team. "Sie haben Indien stolz gemacht." Sogar die oppositionelle Hindu-Partei BJP stimmte in den nationalen Jubel ein und reklamierte den Triumph für Indien.

Prostitution und Brutalität

Dabei hatte sich Indien anfangs nicht leicht getan mit dem Überraschungshit der Saison. Liebevoll, aber schonungslos und grell konfrontiert Regisseur Danny Boyle das Land mit den eigenen Schattenseiten, vor denen man sonst lieber die Augen verschließt: vor der Armut in Mumbais Megaslum Dharavi, Prostitution, Religionshass und sagenhafter Brutalität.

Das rührt an Tabus und fuchst manche Inder. Man warf Boyle Armutsvoyeurismus vor. Er zeige wieder einmal ein westliches Zerrbild des Landes als Armenhaus der Welt. Viele Slumbewohner ärgert auch der Titel - Slumdog ist eine große Beleidigung.

Zwar gibt es auch in Indien sozialkritische Filmemacher. Aber sie bedienen ein kleines Publikum. Die Bollywood-Schinken für die Massen schwelgen in heiler Welt, spielen vor den schönen Naturkulissen der Schweiz oder Australiens und bieten mit traumhaften Tanz- und Gesangeinlagen eine Flucht aus der Realität. "Indien lebt in Dharavi. Aber unsere Filme handeln von Disneyland", sagt der indische Filmemacher Mahesh Bhatt. Und "Slumdog Millionär" passt nicht in diese Sehgewohnheiten. Zwar läuft der Film in den Kinos, aber ein Kassenschlager war er - bisher - nicht.

Echte Slumkinder im Film

Natürlich ist "Slumdog Millionär" auch Indiens Erfolg. Der Film spielt in Mumbai, zeigt indische Themen und ist mit indischen Darstellern, darunter echten Slum-Kindern, besetzt. Hinter dem Grummeln im Gandhi-Land steckt auch leise Scham. Nur zwei indische Filme wurden für den Auslands-Oscar nominiert, und keiner bekam einen Preis. Die wirkliche Schande sei, dass nicht Bollywood diesen Film gedreht habe, sondern dass es Ausländer dazu brauchte, befand die Wirtschaftszeitung "Mint".

Dabei liegt das Thema buchstäblich zu Füßen von Indiens Kinofabrik Bollywood in der Metropole Mumbai: Dharavi gilt als der größte Slum Asiens. Auf 1,75 Quadratkilometer erstreckt sich das Meer aus Bruchbuden und Hütten, mehr als eine Million Menschen leben hier. Oft hausen ganze Familien zusammengepfercht auf vier, fünf Quadratmetern. Durch die Gassen und Gossen ziehen sich stinkende Rinnsale, Hühner und Ziegen laufen herum.

Auf 1400 Einwohner kommt rechnerisch eine Toilette. Die meisten Menschen verrichten ihre Notdurft im angrenzenden Fluss Mahim Creek. Insgesamt 42 Millionen Inder kämpfen heute in städtischen Slums um ihr tägliches Überleben.

Der Film hat Dharavi nun weltweit ins Rampenlicht gerückt. Journalisten pilgerten am Montag in Scharen in den Slum, um Bewohner zu befragen. Dort leben auch die beiden Kinderdarsteller Rubina Ali und Azharuddin Ismail. Ihre Familien feierten den Triumph mit "Jai ho"-(Sieg)-Rufen. Doch viele andere Slumbewohner haben den Oscar-Hit noch nicht einmal gesehen. Kinokarten sind teuer. Man wartet lieber auf die DVD.

"Ich mochte den Film. Es war, als ob ich mein eigenes Leben auf der Leinwand sehe", sagte Prashant Dighe, der den Oscar-Abräumer gesehen hat, der Agentur AFP. Aber wie die meisten hat er wenig Hoffnung, dass es nun besser wird. "Die Politiker haben in den letzten 60 Jahren nichts geändert. Was werden diese Filmemacher tun? Sie kommen, drehen und machen Geld. Wir werden hier bleiben. Heute, morgen und in den nächsten 60 Jahren." (Christine Möllhoff aus Mumbai, DER STANDARD/Printausgabe, 24.02.2009)