Junger weißer Ritter gegen tief korrupte Vertreter des Systems: Dev Patel als Jamal K. Malik, hier mit Anil Kapoor als zynischem Spielleiter und beim Verhör gegenüber einem Polizeibüttel

 

 

 

Fotos: Filmladen

Grandiose Leistungen der Kinderdarsteller, hier mit Danny Boyle am Set der wegen ihrer drastischen Symbolik bereits vieldiskutierten Plumpsklo-Szene: Wieviel wert ist ein Filmstar-Autogramm? "Trainspotting" grüßt von ferne

 

 

 

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Romantische Langzeitliebe zwischen Jamal und Latika als Triebkraft der Erzählung, äußerst attraktiv gecastet: Ayush Mahesh Khedekar und Rubiana Ali bzw. Dev Patel und Freida Pinto

 

 

 

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Wobei Emanzipation in diesem Plot keinen Platz hat: Buben sind umtriebig (hier als "Tourist Guide"), Mädchen erdulden (auch Gangsterregeln)  - Tanay Chheda und Tanvi Ganesh Lonkar als Jamal und Latika in der mittleren Altersstufe

 

 

 

Fotos: Filmladen

Realismus in Dosen: das kindliche "Musketier"-Trio in der Schrott-Umgebung des Filmbeginns - und Jamal, der als Hilfskraft in einem Callcenter zumindest saubere Wäsche trägt, vor Neubauten, welche die Slums verdrängt haben

 

 

 

Fotos: Filmladen

Vor dem Taj Mahal wird ein US-Ehepaar von einem aufgeweckten Bürschchen angesprochen. Bezüglich des indischen Nationaldenkmals jongliert sich der kindliche "Tourist Guide" mit blumigen Improvisationen so durch, anschließend kann er allerdings viel Bewegenderes vermitteln: Einblicke in das "wahre Indien", in die bizarren Armenviertel, denen er entstammt.

Eine kleine Szene nur, doch symptomatisch dafür, wie Danny Boyles britischer, mit EU-Mitteln geförderter  "Slumdog Millionaire" das US-Kino eroberte: Neunstellig sind, im Gefolge des Oscar-Triumphes, bereits die Box-Office-Zahlen; eng angeleht an das Sozialmärchen-Muster vom "American Dream" ist der Aufstieg aus Elend in Reichtum und ins Medien-Rampenlicht. Hauptschauplatz des farbenfrohen Dramas ist Bombay/Mumbai, das vom Slums umgebene Zentrum der als "Bollywood" bekannten Großstudios, aber mit eher geringfügigen Adaptierungen ließe sich die Handlung auch in Los Angeles ansiedeln. Oder in Neapel. Oder in Rio de Janeiro.

Rittermythen ...

Ein jugendlicher Finalist einer TV-"Millionenshow" - mit den gleichen Spielregeln wie beim hiesigen Pendant, allerdings mit einem ungebremst höhnischen Moderator - steht unter Betrugsverdacht. Bei der polizeilichen Vernehmung wird er erst malträtiert, bevor er in aller  Ruhe und in filmischen Rückblenden erzählen kann, wie es kam, dass er trotz oder eben gerade wegen seiner Herkunft als "Slum-Hund" die Antworten auf die Fragen der absolvierten Spielrunden wissen konnte. Quasi schicksalshaft.

Aufgerollt wird die Kindheitsbiographie zweier Brüder, die, schon früh verwaist, sich mit Bettelei und Tricksereien durchschlagen. Mächtige Gegner sind religöse Hetzer, deren Ausschreitungen ihre Mutter zum Opfer fiel, vor allem aber das die Slums beherrschende organisierte Verbechen. Während der ältere Bruder irgendwann einer üblen Karriere-Verlockung nachgibt, steht der jüngere Titelheld ganz für das Ideal des weißen Ritters: Einzige Motivation ist ihm die Liebe zu einem seit frühen Tagen vertrauten Waisenmädchen; einige Rückschläge hat er zu ertragen, einige Prüfungen zu bestehen, einige Versuche, ihn zu korrumpieren, abzuwehren ...

... und Realitäten

Auf allen wohlvertrauten Erzählregeln basiert "Slumdog Millionaire" konsequent: die 24 Stunden, in denen auf ein Leben zurückgeblickt wird, oder die äußere Schönheit, die samt Beschädigungen auf die innere hinweist. Das Tempo wird hochgehalten; Simon Beaufoys prämiertes Drehbuch auf Basis von Vikas Swarups Roman "Q & A" befolgt variantenreich, aber eben auch etwas mechanisch die populäre Grundregel, im ersten Akt des Dramas Motive zu etablieren, die im dritten dann Verwendung finden.

Sozialrealismus wird nicht ernsthaft angestrebt, trotz illustrativer Schwenks über Schmutz und Chaos der Slumviertel sowie später über die sie verdrängende, historisierende Spekulationsbebauung, trotz Szenen in Callcenter für europäische Unternehmen. Symbolhafte Überhöhung ist die Methode. Denn wo etwa Jia Zhangke vergleichbar radikale Umbrüche in China so ins Bild setzt, dass den Zusehern genug Zeit für eine differenzierte Meinungsbildung bleibt, stellen sich hier ein flotter Schnitt und Anthony Mantles meist sehr nahsichtige und effektorientierte Kamera ganz in den Dienst der mit einigen Humor-Zuspitzungen verbrämten Märchendramaturgie.

"Who wants to be ..."

Daraus, wie in Indien geschehen, den Vorwurf einer kolonialistischen, Elend zynisch ausbeutenden Haltung abzuleiten, wirkt überzogen - besser gesagt: nicht zu knapp doppelzüngig angesichts eines inneren Kolonialismus Indiens. Wo doch die Großstudios von Mumbai aus dank ihrer Epen in der Amtssprache Hindi ein gutes Dutzend regionalsprachlicher Kinolandschaften massiv niederbügeln - mit jenem bekannt schwelgerischen Eskapismus, bei dem dann schon medial gejauchzt wird, wenn sich eine homöopathische Dosis an Realität hineinverirrt.

Ein bunter tragikomischer Anekdotenreigen ist der Film - und seine Auswertung gestaltet sich mittlerweile ähnlich: Da wären die Debatten, wie den hinreißenden Kinderdarstellern und ihren Familien angemessen geholfen werden kann; Fototermine mit ihnen werden fast schon zum Muss für wahlkämpfende Politiker. Da wäre "Who wants to be a Millionaire?" - Hauptfinanzier des Filmes war schließlich eine Firma, Celador, die mit der Entwicklung dieses TV-Formats reich wurde: Nicht nur können die Szenen, in denen Slumbewohner in Massen beim Finale mitfiebern, getrost als Wunschdenken verbucht werden, sondern auch Ankündigungen, dass Regisseur und Hauptdarsteller zu karitativen Zwecken Gäste der Millionenshow sein werden, als Eigenwebung verstanden.

"Lasst uns siegen"

Und auch die zweifach Oscar-prämierte Musik von A. R. Rahman erhält schon Zusatzfunktionen: Indiens regierende Kongresspartei hat die Exklusivrechte gekauft, das von einer großen Tanzsszene begleitete Finallied "Jai Hoi" ("Lasst uns siegen") in ihren Wahlwerbespots und bei Kundgebungen spielen zu dürfen - sehr zum Ärger der Opposition, die darin bereits ein nationales Kulturerbe sieht. Könnte es sein, dass in den kindlichen "Slumdogs" die Politiker von morgen schlummern?

Nachvollziehbar ist jedenfalls der befreiende Jubel, dass endlich auch indische Gesichter im Rampenlicht von Hollywood strahlen durften. Dass daraus ein ähnlicher Trend wird wie bei Hollywoods Asien-Orientierung von vor zehn Jahren (und damit ein Nachziehen von Europas, durch Mira Nairs Venedig-Sieg mit "Monsoon Wedding" befeuerte langfristige Indien-Mode), ist allerdings vorerst nicht sehr wahrscheinlich.

Aufatmen kann jedenfalls Regisseur Danny Boyle: Wie bei anderen als exzentrische Wunderknaben Apostrophierten lag für ihn eine Herausforderung darin, einmal vollsatt die kulturelle Mitte zu treffen - vergleichbar Christopher Nolans Batman-Erfolg oder Darren Aronofskys "Wrestler". Auch hier mit Erfolg: Boyle ist seit Februar 2009 nicht mehr der ewige Mr. "Trainspotting" - und der sympathisch-schrullige Luftsprung, mit dem er seine Oscar-Dankesrede einleitete, war vielsagend. (hcl, 9.3.2009)