Was ist eigentlich europäisch? Wer darf in die Europäische Union? Und warum? Reden über Europa auf der Bühne des Wiener Burgtheaters: Aleksander Kwasniewski, Nino Burjanadze, Alexandra Föderl-Schmid, Benita Ferrero-Waldner und Cem Özdemir (von links).

Foto: STANDARD/Newald

Wien - EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner kritisierte am Sonntag offen die politisch Verantwortlichen in der Ukraine. Bei einer vom Standard mitorganisierten Europa-Debatte im Wiener Burgtheater sagte sie über den stockenden Annäherungsprozess Kiews an Brüssel, dass es manchmal fraglich sei, ob "die ukrainischen Politiker zum Besten ihres Volkes handeln" . Man müsse erst sehen, ob sich Präsident Viktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julia Timoschenko auf die Richtung einigen können, die ihr Land einschlagen solle.

Die Optionen seien eine größere Nähe zur Europäischen Union oder zu einem immer autoritärer regierten Russland. Auch die türkische Regierung forderte Ferrero-Waldner auf, ihren Verpflichtungen im Beitrittsprozess uneingeschränkt nachzukommen. Insbesondere erwähnte die Kommissarin die Zypern-Frage und die Kooperation mit Brüssel in Fragen der Energiesicherheit. Beitrittsrabatte werde es nicht geben.

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"Europas Geschichte bestand seit jeher aus dem Umgang mit und der Überwindung von Grenzen." Das Zitat stammt vom großen mitteleuropäische Schriftsteller Claudio Magris. Am Sonntag brachte es EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner in die Debatte im Wiener Burgtheater ein, wo eine so renommierte wie vielfältige Runde über die vielschichtige Frage, wo denn nun Europas Grenzen lägen, zur Sache kam.

Welche Grenzen denn überhaupt? Geografische? Kulturelle, religiöse oder ökonomische Grenzen? Das versuchten neben Ferrero-Waldner die georgische Oppositionsführerin Nino Burjanadze, der frühere polnische Präsident Aleksander Kwasniewski sowie der Kovorsitzende der deutschen Grünen und Europaparlamentarier Cem Özdemir zunächst zu klären. Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid moderierte den vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen, der Erste Bank Stiftung, dem Burgtheater und dieser Zeitung veranstalteten zweiten Teil der "Debating Europe" -Reihe.

Burjanadze pochte darauf, "in Europa keine künstlich geschaffenen geografischen Grenzen zu errichten. Europa halten Werte zusammen und nicht die Geografie. Gemeinsame Ideale sind entscheidend. Europa sollte erst dort seine Grenzen haben, wo auch die Demokratie endet." Um die Anhänger der geografischen Argumentation - zumindest in Bezug auf ihr Land - dennoch mit deren eigenen Mittel zu überzeugen, erwähnte sie sicherheitshalber auch, dass Georgien von italienischen Kartografen bereits im 16. Jahrhundert zu Europa gerechnet wurde. Und christlich, ja, christlich sei es schon tausend Jahre länger.

"Natürlich ist die Geografie ein Kriterium" , konterte Ferrero-Waldner. "Aber eben nicht das einzige." Die griechisch-römischen, jüdischen und islamischen Einflüsse auf die europäischen Kultur seien evident ("Für mich ist die EU kein Christenklub" ). Die Werte der Europäischen Union seien überdies in den Kopenhagener Kriterien klar festgelegt, wo neben politischen, ökonomischen und technischen Voraussetzungen auch die Aufnahmefähigkeit der Union für weitere Beitritte explizit festgeschrieben ist.

Der "Schwabe aus Anatolien" Cem Özdemir - er versicherte dem Publikum augenzwinkernd, dass seine Vorfahren im Jahr 1683 nicht vor Wien gestanden hätten und dass er zudem gezwungen worden sei, Waffen und Schleier an der Garderobe abzugeben - fragte dagegen, warum sich Europa denn eigentlich im Ausschlussverfahren definieren müsse. "Wir sollten Europa doch durch uns selbst, also europäisch definieren." Dass er für eine Reise von Warschau nach Lissabon keine Reisepass mehr brauche ("Kreditkarte ja, Pass nein" ), sei mehr als bemerkenswert, sagte unterdessen Kwasniewski, der zwischen 1995 und 2005 polnischer Staatschef gewesen war. "Das Dilemma der EU ist, wie wir heute in Rahmenbedingungen, die in den vergangenen 60 Jahren erfolgreich waren, erweitern sollen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir eine europäischere EU wollen oder eine weniger europäische EU."

Überleben durch Erweiterung
Eine Fortsetzung der Erweiterung ist Kwasniewski zufolge jedenfalls überlebenswichtig für die Union - genauso wie für jene, die dem Klub beitreten wollen. Burjanadze: "Wir wissen, dass wir derzeit nicht bereit für einen Beitritt sind und dass auch die EU nicht in der Lage ist, uns aufzunehmen. Aber: Wir wollen nicht immer nur Nachbarn bleiben." Würde Brüssel aber seine Erweiterungspolitik ganz aufgeben, würde die Union auf eines ihrer besten Instrumente verzichten, erklärte auch Özdemir: "Die Türkei ist ein gutes Beispiel dafür. Dort liegt noch vieles im Argen, aber die Reformanstrengungen gehen in die richtige Richtung. Um durch die Tür zu kommen, muss eine Liste von Bedingungen erfüllt werden - diese Soft Power der Union ist eines der effektivsten Werkzeuge, das wir Europäer haben. Heute haben wir kurdisches Fernsehen in der Türkei, Freunde von mir treten dort als Moderatoren auf, die noch vor 15 Jahren eingesperrt worden sind."

Ferrero-Waldner verwies im Zusammenhang mit der Erweiterungspolitik auf die Verpflichtungen der Union, aber auch auf jene der Kandidatenländer (siehe die Artikel auf Seite 3). "Ein EU-Beitritt ist keine Einbahnstraße, es wird keine Beitrittsrabatte geben." Die Union selbst müsse für weitere Erweiterungsschritte bereit sein, sonst würden die Bürger nicht mitmachen. Dazu gehöre auch, dass die EU "klarer über ihre Finalität" , also ihre Zielvorstellung Auskunft gebe. Denn "aus einem Mangel an klaren Zielen entsteht auch ein Mangel an Glaubwürdigkeit. Die drei verlorenen Referenden zum Verfassungsvertrag und Lissabon-Vertrag sind genau darauf zurückzuführen."

Die Außenkommissarin mahnte die Türkei, ihre Verpflichtungen einzuhalten. Das sogenannte Ankara-Protokoll über direkten Verkehr zwischen der Türkei und Zypern müsse anerkannt, in Sachen Energiesicherheit - die Trasse der federführend von der OMV geplanten Nabucco-Gaspipeline führt durch die Türkei - müsse Ankara mehr kooperieren. Und während die Diskutanten es geschlossen als ziemlich unwahrscheinlich ansahen, dass Russland je der EU beitreten werde, erklärte Ferrero-Waldner zur Ukraine: "Kiew kann in beide Richtungen aufbrechen, nach Moskau oder nach Brüssel. In einem Fall wäre es eine Anpassung an ein semidemokratisches System, im anderen ein Assoziationsabkommen mit dem Westen. Es ist nicht klar, worauf sich Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko einigen werden, aber manchmal müssen wir uns fragen, ob einzelne Politiker zum Besten ihres Volkes handeln."

Allen Fantasien einer "eingeschränkten Demokratie" an den Rändern Europas erteilten die Politiker aus den Transformationsstaaten eine Abfuhr. Selbst in den neuen EU-Staaten sei Demokratie heute noch kein Wert an sich, sagte Aleksander Kwasniewski. Der grundlegende Wert sei Macht. Burjanadze ergänzte: "Entweder es herrscht Demokratie oder eben nicht. Unser größter Fehler in Georgien war es, zuerst alles andere in Angriff zu nehmen und uns erst dann um die Demokratie zu kümmern. Damit haben wir ein Haus gebaut, dem das Fundament fehlt." Diese Grenze müsse für alle, die Europäer sein wollen, tabu bleiben. (Christoph Prantner, red/DER STANDARD, Printausgabe, 16.03.2009)